2025-03-02 gesellschaftsanalyse Kleidungsregeln Was wir ueberwunden haben Die Situation 1868: Der Anblick der entbloesten Beine sorgt fuer einen Skandal. Damen haben ihre Beine unter langen Roecken zu verstecken. In Frankreich ist ihnen das Hosentragen un- tersagt. 1900 in Frankreich: Jede Frau, die sich wie ein Mann kleiden moechte, muss bei der Polizeipraefektur vorstellig werden und mit einem aerztlichen Attest um eine entsprechende Genehmi- gung ersuchen. Wie empfinden wir diese Regeln? Sind sie angemessen? Machen sie Sinn? Sollte die Welt so sein? Ich kenne keine Person, die ein Hosenverbot fuer Frauen oder einen Zwang zu knoechellangen Roecken heute noch richtig finden wuerde. Strafen fuer Frauen, die Hosen tragen, kommen uns (in der westlichen Kultur) barbarisch vor ... wie im Mittelalter. Von aehnlichen Gesetzen zur Verschleierung in Afghanistan und im Iran distanzieren wir uns ... Dabei hatten wir vor 150 Jahren aehnliche Verbote in Mitteleuropa! Sind 150 Jahre lange her? Haben wir diese Vergangenheit ueberwun- den? Nun koennen Frauen seit einem guten Jahrhundert waehlen, duerfen Hosen und Miniroecke tragen ... seit knapp 70 Jahren auch ein eigenes Bankkonto eroeffnen und seit immerhin schon 48 Jahren ganz selbststaendig fuer sich entscheiden, in welcher Weise sie arbeiten wollen. Das Tabu von Hosen fuer Frauen wirkt weit in der Vergangenheit liegend. Natuerlich darf eine Frau anziehen, was sie moechte ... oder etwa nicht?! Wie wenig anders die heutige Situation zu der damals ist, zeigt sich sogleich wenn es nicht darum geht, ob Frauen Hosen tragen duerfen, sondern, ob Maenner Roecke tragen duerfen! Jeder Mann, der sich wie eine Frau kleiden moechte, darf dies dem Gesetz nach zwar tun, jedoch wird das eine weitreichende gesellschaftliche Ausgrenzung und Aechtung zur Folge haben. Wie hoert sich das an? Gleich wie das obige Zitat zur Situation bei Frauen vor 150 Jahren? Finden wir dies hier ebenso barbar- isch? ... dabei beschreibt es nur die heutige Realitaet. Seit letztem Jahr kann man in Deutschland immerhin Vorname und Geschlecht ohne aerztliches Prozedere aendern. Die Gesetze kommen voran (wenn auch sehr langsam), die Gesellschaft kommt dennoch nicht hinterher. Wenn ich einfach nur so im Alltag (also ausserhalb von Fasching) einen Rock anziehen wuerde, dann waere mein gesellschaftlicher Status dauerhaft geschaedigt. Wuerde ich gar wagen, in hohen Schuhen rumzulaufen, wuerde ich danach vermutlich keine ehrenamtliche Kinder- und Jugendarbeit mehr machen koennen. Eine Straftat wuerde ich damit nicht begehen (anders als die Frauen in Europa damals und in einigen Laendern auch heute noch), doch die gesellschaftliche Brandmarkung kaeme einer Verurteilung gleich. Ist das nicht krass?! Es ist doch nur Kleidung! Nun soll mir eine Person erklaeren, dass wir entwickelt und zivilisiert sind! Mir soll eine Person erklaeren, dass wir heute weiter sind als vor 150 Jahren! Ich sehe nur die immer gleichen Muster, die immer gleichen willkuerlichen Regeln, die gleiche Barbarei. Nichts daran ist entwickelt, nichts daran ist rational, nichts fair oder gerecht. So lange meine Kleidung nicht voellig irrelevant ist, sind wir Barbaren. ... einfach nur einen Rock anziehen ... was ist da schon dabei?! Aber an dem kleinen Unterschied, ob das Kleidungsstueck in der Mitte geteilt und nochmal zusammen genaeht ist oder nicht, teilen sich Welten. Es ist kaum begreiflich, wie viel Bedeutung diese Nebensaechlichkeit hat. Es ist wie wenn sie unser gesellschaft- liches Ich definieren wuerde. Daran zu ruetteln bringt das gesellschaftliche Fundament zum Einsturz (meint man). ... Und was sagt das ueber uns aus?! Wie barbarisch finden wir Kulturen, deren gesellschaftliches Selbstverstaendnis so sehr an einer willkuerlichen und voellig belanglosen Nebensaechlichkeit haengt, dass sie sie mit Zaehnen und Klauen verteidigen und jede Verletzung der Norm mit Ausschluss und Aechtung bestrafen? Wir sind auch genau so eine Kultur ... bloss blind fuer unsere eigenen Absurditaeten. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke