2025-10-25 gesellschaftsanalyse Fehl am Platz Gerechtigkeit In letzter Zeit fuehle ich mich besonders falsch auf dieser Welt. Diese Welt passt nicht zu mir. Ich passe nicht zu dieser Welt. Das Kernproblem ist, dass es nie um das Gute geht. Es gibt kein Streben nach einem guten Leben fuer alle Menschen. Wenn etwas Gutes passiert, dann ist es trotz und nicht weil. Ich finde das unertraeglich. Die Leute wollen nicht verstehen. Es interessiert sie gar nicht. Die Probleme sind ihnen egal. Sie wollen nur (scheinbare) Loesungen, nein, nicht mal das, sie wollen nur (kurzfristige) persoenliche Vorteile. Das treibt sie an. Das bestimmt ihr Han- deln und Denken. Eigentlich wollen die Leute ja gar keine Steuern zahlen (ohne sich zu ueberlegen, wie ein Staat dann funktionieren soll, und absurderweise wollen sie dennoch Subventionen vom Staat, was zeigt wie weit es mit der Konsistenz ihrer Gedanken her ist). Aber wenn es nun Steuern sein sollen, dann sollen sie gleich sein. Okay, in einem Sozialstaat sollen sie progressiv sein, das sehen sie ein. Nun zahlen die Reichsten und die Grosskonzerne aber fast gar keine Steuern, da sie Mittel haben, um Steuern zu umgehen -- teilweise legal und teilweise im Graubereich oder illegal. Wenn die nun ihren vollen Anteil zahlen wuerden, dann waere es doch fair. Ist es eigentlich mit oder ohne eine zusaetzliche Reichensteuer gerechter? Ist die nicht ungerecht gegenueber den Reichen, weil diese damit zusaetzlich besteuert werden? An dieser Stelle fehlt es am Verstaendnis: Reiche sind nicht deshalb reich weil sie fleissig waeren und Arme deshalb arm weil sie faul waeren -- das ist ein Mythos, ein Ablenkungsmanoever. Reiche sind reich weil sie mehr Macht haben als Arme. Mit dieser Macht ueben sie politischen Einfluss aus, der dafuer sorgt, dass sie reich bleiben und noch reicher werden. Ob man reich oder arm -- machtvoll oder machtlos -- ist, haengt davon ab, in welches Umfeld man hingeboren wird. Alles was Reiche danach aktiv tun, ist es, dafuer zu sorgen, dass alles so bleibt und sich noch ver- staerkt. Alles was Arme aktiv tun ... aendert nichts an ihrer Situation. Das ist das Problem, das man zuerst verstehen muss. Das zu be- greifen, dafuer sollten wir Interesse haben. Der naechste Schritt ist dann, die eigene Position in der Reichtums- und Machtverteilung zu kennen. Manche von uns werden auch zu den obersten 10% gehoeren und damit Hauptverursacher des Problems sein. Das gilt es zu akzeptieren und nicht abzustreiten. Nun will man gerne sagen, dass man selbst ja nichts dafuer ko- enne, wenn man in ein privilegiertes Umfeld hineingeboren wurde. Es waere unfair, wenn man dafuer bestraft werden wuerde. Das ist jedoch die falsche Betrachtung. Man hat den Reichtum und die Privilegien vielleicht nicht angehaeuft (indem man andere ausge- beutet hat), aber man hat davon *profitiert*. Diesen Nutzen von den Vorteilen der Ungleichheit, den muss man verantworten. Und es ist auch nur gerecht, wenn privilegierte Leben auch ein paar be- lastende Herausforderungen haben, nur so zum Ausgleich. Viele dieser Privilegien sind Generationen alt. Allen voran die Kolonialismusschuld, diese systematische, seit Jahrhunderten an- dauernde Ausbeutung anderer, um selbst ein unberechtigt bequemes, reiches und maechtiges Leben zu fuehren. Wenn nun ausgebeutete arme und ausbeutende reiche Laender die gleichen Klimaschut- zauflagen haetten, dann waere das ungerecht, weil es die Ausbeu- tung und die ganze Vorgeschichte ignoriert. (Es ist wie zu sagen, Maenner und Frauen haetten die gleichen Chancen im Schach (und womoeglich sogar davon abzuleiten, dass Maenner besser Schach spielen koennten), ohne zu beruecksichtigen, dass Jungs ermutigt werden, Schach zu spielen und Vorbilder haben, Maedchen davon aber abgehalten werden. Da ist schlichtweg keine Vergleichbarkeit gegeben.) Es reicht auch nicht, einfach eine Progression nach Wohlstand einzufuehren. Nein, auf der Basis dieser historischen Ungerechtigkeit kann keine Gerechtigkeit entstehen! Man darf das Problem nicht zudecken. Der erste Schritt muss sein, das Problem ueberhaupt zu sehen -- sehen zu wollen --, es zu verstehen und es dann schlichtweg an- zuerkennen. (Erstmal jede Schuldfrage aussen vor lassen, da die nur psychologische Leugnungsmotivationen aufbringt. Stattdessen ganz wertfrei die Realitaet als solche anerkennen.) Der Folgeschritt muss sein, zu einem Zustand des Ausgleichs zu kommen. Dieser kann niemals erreicht werden, wenn die Macht- verhaeltnisse bleiben wie sie sind. (Das ist entscheidend zu erk- ennen.) Wenn nun seit ein paar Hundert Jahren die Kolonialmaechte den Ton angegeben haben, so werden nun mal ein paar Jahrhunderte kommen muessen, in denen die ausgebeuteten Laender den Ton angeben. -- Das gibt vielleicht einen Eindruck davon wie Gerechtigkeit aus- sieht ... und erst jetzt begreifen wir, wie ungerecht unser Han- deln war, ueber so lange Zeit! Wir erkennen es daran, dass wir Angst bekommen, wenn wir unsere Macht aus der Hand geben. Haetten wir uns fair verhalten, muessten wir nun keine Angst haben. Wir -- also du und ich -- haben das nicht verbrochen, aber wir haben davon profitiert ... wir *profitieren* weiterhin davon! Das Vergangene koennen wir nicht ungeschehen machen, aber wir koennen nach dieser so angenehmen ersten Phase unseres Lebens, in der wir von all den Privilegien profitiert haben, in der nun fol- genden Phase dann mal selber die Hauptlast schultern und unsere Privilegien den bisher Unterdrueckten anbieten. *Das* waere fair. Ich verstehe (und merke selber), dass das schwer ist, aber nur so kann Gerechtigkeit und ein gutes Miteinander entstehen. Wenn wir diesen Schritt nicht machen, dann wird es stets ungerecht bleiben ... und wir sind damit Teil des Problems. * * * Ich halte einiges davon, Regelungen und Gesetze nur danach zu beurteilen, welchen Effekt sie auf das Verhaeltnis von Arm und Reich, von Macht und Machtlosigkeit haben. Alles was die Unter- schiede in der Gesellschaft und in der Welt verringert ist ziem- lich sicher gut, egal um was es sich inhaltlich handelt. In aehnlicher Weise stehe ich allen Regelungen im Bereich er- neuerbare Energien kritisch gegenueber, wenn sie dem Datenschutz schaden (weil das Macht von den Buergern zu den Konzernen ver- lagert) oder wenn Menschen mit viel Geld mehr davon profitieren als Menschen mit wenig Geld (wodurch sich die Schere weiter oeff- net). Auch wenn die Regelungen zu mehr erneuerbarern Energien fuehren (kurzfristig), so zementieren sie nur weiter das System, das dieses ganze Klimaproblem verursacht hat. Wirkliche Loesungen findet man nur wenn man die Basis von Grund auf integer und gerecht baut. Auch das Argument, dass man dafuer keine Zeit haette, lasse ich nicht gelten. Also, natuerlich fehlt Zeit, aber die kann man nicht aufholen, wenn man nur oberflae- chlich drueber wischt. Wenn man nicht an der Basis ansetzt, dann werden es keine Loesungen werden, sondern nur Augenwischerei, Oberflaechlichkeit, kurzfristige Effekte. Die Probleme -- auch die klimatischen -- bestehen dann fort. Dass all dies in unserer Welt irrelevant ist und sogar bekaempft wird, laesst mich am meisten fehl am Platz fuehlen. Ich koennte Teil sein einer Loesung, fuer die sich die Menschheit aber nicht interessiert. (Nachtrag: Ich habe aufgeschnappt, dass die Menschen typ- ischerweise die Wandlungsfaehigkeit und den Wunsch zu positivem Handeln ihrer Mitmenschen unterschaetzen wuerden. So wird es womoeglich auch hier so sein, dass mehr Menschen als ich glaube aehnlich denken.) http://marmaro.de/apov/ markus schnalke