2024-09-02 the real world Mein Berlin Wie eine Orange im Winter Berlin ist eine besondere Stadt fuer mich. Sie nimmt einen relevanten Platz in meinem Leben ein. Sie zu erleben hat mich gepraegt und inspiriert mich immer wieder neu. Zugleich ist Ber- lin so gross und vielfaeltig, dass man unmoeglich von ``dem'' Berlin reden kann. Mein Berlin ist hauptsaechlich Kreuzberg. Das erste Mal in Berlin war ich Mitte der 90er mit meinen Eltern. Das war ein paar Jahre nach dem Fall der Mauer. An viel von diesem Besuch kann ich mich nicht mehr erinnern. Es war ein recht durchschnittlicher Touristenberlinbesuch: Reichstag, Schwangere Auster, Kaiser-Wilhelm-Gedaechtniskirche, wahrscheinlich auch ir- gendwo ein Stueck Restmauer ... Viel Eindruck hat dieser Tag nicht bei mir hinterlassen. Ich war noch zu jung und bin nur hin- terher geschlappt. Das zweite Mal war ich mit der Schule auf Abschlussfahrt in Ber- lin. Ich kann mich nur daran erinnern, dass wir den Reichstag mit Fuehrung angeschaut haben. Ansonsten wollten alle anderen staendig nur in Discos (Cubar, Matrix, ...) und Party machen. Ich dagegen wollte in Ruhe schlafen. Tagsueber habe ich mit Ju Endlos-Vier-Gewinnt gespielt ... und einmal endlos den Conrad- Laden gesucht. Viel mit Berlin an sich hatte diese Woche fuer mich nicht zu tun. Von allen Berlinbesuchen war das der ir- relevanteste. (In diesem Text hier haette ich ihn fast ver- gessen.) Das naechste Mal war ich 2005 anlaesslich des Deutschen Turnfests in Berlin. Eine Woche mit zwei Freunden auf eigene Faust in der grossen Stadt. Dass die Schule, in der wir uebernachtet haben, in Kreuzberg gelegen ist, war fuer die Leute in meinem Umfeld ir- gendwie ein Thema. Wenn ich von dem kommenden Turnfestbesuch er- zaehlt habe, war der einzige Kommentar ueblicherweise: ``In Kreuzberg, Oh! ...'', wie wenn das etwas oder alles sagen wuerde. Bei mir ist nur angekommen, dass das ein besonders gefaehrlicher Stadtteil sein muesse. Als junger Mensch habe ich dann Berlin aber einfach hingenommen wie es war. Natuerlich war die Stadt riesig und generell in einer Weise ``gefaehrlich'', die es in Sueddeutschland auf dem Dorf so nicht gab, aber andererseits war Berlin halt Berlin und so wie es nunmal war. Ich habe das alles aufgenommen ohne zu werten ... worueber ich rueckblickend sehr dankbar bin. Wir haben damals in einem Schulklassenzimmer geschlafen. Tag- sueber hatten wir teilweise Wettkaempfe in verschiedenen Teilen der Stadt, teilweise sind wir auch nur so rumgefahren und rumgelaufen, oder haben uns Sehenswuerdigkeiten angeschaut: Ein- druecklich waren fuer mich damals die East-Side-Gallery und beim Uebergang von Tag zu Nacht auf dem Fernsehturm zu sein. Das erste Mal alleine in Berlin war ich in den Jahren danach beim Linuxtag. Ich hatte mich einfach mal zum Standdienst beim Debian-Stand auf der Computermesse freiwillig gemeldet. Fuer zwei oder drei Schichten am Stand hatte ich ein Ticket fuer alle Tage, um mir Vortraege anzuhoeren und einfach so rumzuschauen. Finanziert habe ich mir die Fahrt, indem ich sie als Mit- fahrgelegenheit angeboten habe und bestenfalls in beide Richtungen Mitfahrer hatte. Das hat fast immer funktioniert. Ein- mal bin ich sogar im Plus rausgekommen ... was irgendwie absurd ist, fuer eine Woche Urlaub. :-) Geschlafen habe ich im Auto. Bei meiner ersten Fahrt hat mir ein Mitfahrer einen Waldparkplatz gezeigt, wo des oefteren Autos stehen wuerden (wobei ich dort im- mer alleine war). Praktischerweise war die Stelle direkt hinter einem Campingplatz mit Muenzduschen. Ich hatte also auch Zugang zu Waschmoeglichkeiten. Morgens bin ich dann immer zur Messe gefahren und abends nach Spandau zum Schlafen. Das war ein tolles System, das gut fuer mich gepasst hat. Nach und nach habe ich dann Leute kennengelernt: Henry, Hauke, Inne. Dadurch habe ich nicht mehr alle Naechte alleine im Auto geschlafen, sondern einzelne Naechte bei den Freunden auf dem Sofa. Irgendwann war ich dann sogar froh, ueberhaupt noch eine Nacht fuer mich alleine im Auto zu haben. Wenn ich in dieser Zeit etwas von Berlin angeschaut habe, dann waren es Spaziergaenge mit Henry durch Kreuzberg ... auch abends durch den Goerlitzer Park, was ich mich alleine nicht getraut haette. Darueber hinaus war und ist das Holocaustmahnmal die einzige ``Sehenswuerdigkeit'', die ich immer wieder besucht habe. Ansonsten bin ich gerne mal mit der Ringbahn eine Runde gefahren. Dies ist nun der Uebergang zu der Zeit nach dem Aus des Linuxtags in Berlin und dann den Besuchen bei Freunden in Berlin: Katja und Michi. Berlin war fuer mich dann der Ort, um Urlaub zu machen. Wenn die halbjaehrlichen Entwicklungstreffen in Norddeutschland (also hinter Frankfurt) waren, bin ich meist auf der Rueckfahrt ueber Berlin gefahren, mit einer Woche ``Zwischenstopp'' dort. Das waren ein paar meiner besten Urlaube: Mein Konzept war, jeden Tag nur genau eine Sache vorzuhaben, wie beispielsweise Buecher kaufen gehen, durch die Oranienstrasse zu schlendern, mich auf die Suche nach Postkarten zu machen, etwas kochen, usw. Jeden Tag genau/maximal eine solche Aufgabe ... und sonst nur lesen, schreiben, schlafen, reden, musikhoeren. Wie gut mir das getan hat! Mein Zentrum in Berlin war immer Kreuzberg. Dort fuehle ich mich am wohlsten. Dort ist mein Berlin. ich muss nicht nach Berlin fahren, um das zu sehen, was ich zuhause auch habe. Ich will in Berlin keine schoene, saubere, nette Stadt sehen. Wenn mich das interessieren wuerde, wuerde ich Muenchen besuchen. Der Reiz von Berlin ist fuer mich gerade das Unfertige, die Brachen, die Brueche, der Dreck ... ganz bewusst auch das Unangenehme: U-Bahn fahren, manche Ecken von Kreuzberg bei Dunkelheit, Unbekanntes und dadurch erstmal Verunsicherndes. Auch das Bunte und Vielfaeltige ... aber viel mehr die Abgruende als die schoene Show. Leider wird das Unfertige in Berlin zuneh- men weniger, die Brachen werden zugebaut, die Hausbesetzer- und Kuenstlerkieze werden in teuren Wohnraum umgewandelt ... In Vielem ist das bunte, unfertig, abgruendige Berlin das Gegen- teil meiner beschaulichen Umgebung zuhause. Ein Besuch in Berlin ist fuer mich wie eine saftige, vitaminreiche Orange im langen trueben Winter. Es ist ein Gegenpol, ein Ausgleich in meinem Le- ben ... ein anderer, sonst fehlender Teil von mir. Ich brauche das, hin und wieder, aber nach einer Woche ist's dann auch genug. Dann sind alle Akkus wieder voll mit Inspiration und allen Facet- ten des Lebens und ich will wieder zurueck in mein beschauliches und ruhiges Dorf, bevor mir der Trubel zu viel wird. In den letzten Jahren war ich fast nur noch beruflich in Berlin. Das ist insofern gut, weil ich so etwas oefter hin komme, aber die Zeiten sind doch sehr anders als meine Eine-Aufgabe-pro-Tag- Gammelurlaube. Die Frage ist auch, wie lange ich mich noch so bequem bei Freunden einquartieren kann. Ueber die Zeit gesehen wird Berlin auch immer sauberer, schoener, netter ... selbst Kreuzberg. Absurde Mieten, Hipsters, Partystadt, ... [0] ``Mein'' Berlin kann natuerlich nicht aus Besitzsicht verstanden werden. Das waere absurd, aber die Frage ``Wem gehoert Berlin?'' ist durchaus ein Thema, besonders im Bezug auf Finanzspekula- tionen und Verkehr/Parkraum/Autos. ``Mein'' Berlin ist meine Sicht auf Berlin, auf diese riesige Stadt, die so viele unterschiedliche Facetten hat. Berlin kann man komplett unterschiedlich erleben. Fuer mich ist es jedenfalls die wichtigste Stadt ausserhalb meiner Heimat. Sie ist es durch ihre lange Geschichte in meinem Leben. (Das passende Lied ist natuerlich ``Mein Berlin'' von Reinhard Mey.) [0] https://www.arte.tv/de/videos/RC-024312/capital-b/ http://marmaro.de/apov/ markus schnalke