2023-12-31 the real world Buecher 2023 Was ich gelesen habe Nachdem das vorige Jahr schon etwas weniger Buecher umfasst hat, waren es im nun endenden Jahr nochmal ein paar weniger. Meist habe ich ein Buch pro Monat gelesen, nur der Februar war mit vier Buechern eine Ausnahme. Insgesamt kann ich aber nicht klagen. :-) 1) Richard Feynman: What Do You Care What Other People Think [en] Direkt im Anschluss an ``Surely You're Joking, Mr. Feynman'' habe ich dieses zweite Buch von ihm gelesen. Besonders interessant war fuer mich dabei die Analyse der strukturellen Situation bei der Aufklaerung der Challenger-Katastrophe. Wie schon das andere Buch steckt auch dieses voller interessanter Betrachtungen: For example, when they use the rounding machine, they have to put a rod through holes exactly opposite each other. There are 180 holes, so they have to make sure the other end of the rod goes through the hole 90 holes away. Now, it turnes out you have to climb up into an awkward place to count the holes. It's very slow and very difficult. They thought it would be very helpful if there were four paint marks, 90 degrees apart, put on at the fac- tory. That way, they would never have to count more than 22 holes to the neares mark. For example, if they put the rod through a holes which is 9 holes clockwise from a paint mark, then the other end of the rod would go through the hole which is 9 holes clockwise from the opposite mark. The foreman, Mr. Fichtel, said he wrote a memo with this suggestion to his superiors two years ago, but nothing had happened yet. When he asked why, he was told the suggestion was too expensive. ``Too expensive to paint four little lines?'' I said in disbelieve. They all laughed. ``It's not the paint; it's the paper- work'', Mr. Fichtel said. ``They would have to revise all the manuals.'' The assembly workers hat other observations and sugges- tions. [...] Those suggestions weren't very good, but the point is, the workers were *thinking*! I got the impression that they were not undisciplined; they were very interested in what they were doing, but they weren't being given much encouragement. Noboydy was paying much attention to them. It was remarkable that their morale was as high as it was unter the cir- cumstances. [0] Wertvoll an Feynman ist, dass er Muster und Strukturen erkennt und aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachtet, wodurch sie greifbar werden. Darin finde ich mich wieder. Maybe they don't say explicitly ``Don't tell me'', but they discourage communication, which amounts to the same thing. It's not a question of what has been writ- ten down, or who should tell what to whom; it's a ques- tion of whether, when you *do* tell somebody about some problem, they're *delighted* to hear about it and they say ``Tell me more'' and ``Have you tried such-and- such?'' or they say ``Well, see what you can do about it'' -- which is a completely different atmosphere. If you try once or twice to communicate and get pushed back, pretty soon you decide, ``To hell with it''. [1] 2) Christine Brückner: Katharina und der Zaungast [de] Der Februar hat mit diesem Buch begonnen, das ich kurz zuvor beim Bookexchange im Naturfreundehaus in Blaubeuren gefunden habe. Ich habe es aufgrund des Eindrucks vom Backcover mitgenommen ... wahrscheinlich wegen der Worte ``Gespuer'' und ``Beobachtung''. Gefunden habe ich ein grossartiges Buch. Margot teilt mein Leben, daran allerdings musst du dich gewoehnen. Ich habe keine Geheimnisse vor ihr, weil das nicht noetig ist. Sie laesst mir mein eigenes Le- ben, wie ich ihr das ihre lasse. Unsere Schiffe liegen dicht beieinander. Aber es sind zwei Schiffe, und keines bringt das andere zum Kentern; [...] [2] Es steckt viel Weisheit in diesen Seiten. Katharina hatte es erst neulich gesagt: ``Du hast nie versucht, mich zu halten.'' Er hatte, und das gehoerte zu den Grundansichten, die er sich muehsam genug erwoben hatte, es immer fuer der Freiheit eines Men- schen gemaess gehalten, wenn man ihn `liess', wenn man nie versuchte, ihn zu beeinflussen. [3] ... und auch viel Tragik. Teilweise war es schwer ertraeglich, das Buch zu lesen ... aehnlich wie bei Hesse. 3) Markus Torgeby: Bis an die Grenzen des Seins [de] Dieses Buch habe ich im Globetrotter-Shop zufaellig gesehen und einfach mal mitbestellt. Innerhalb kuerzester Zeit habe ich es durchgelesen. Es hat mich mitgerissen. Ich habe vieles wiederer- kannt. Der knappe, abgehackte, luftige Schreibstil hat eine agile Atmosphaere geschaffen, in der alles so unbeschwert wirkt ... und auch so einfach ... Das wichtigste ist doch: Seinen eigenen Weg zu gehen! Vielleicht muss man die Erfahrung kennen, wie Langstreckenlaeufe sind, was es bedeutet fast jeden Tag Laufen zu gehen, wie sich ein Zwei-Stunden-Trainingslauf anfuehlt, bei dem man einfach mal losgelaufen ist und nach und nach schaut, wo man hinlaeuft ... was waehrend dieser Zeit alles in einem und mit einem passiert ... Wie es ist, wenn regelmaessige lange Laeufe die Normalitaet sind. -- Wenn ich das lese, dann kommt bei mir so vieles hoch. Es nimmt mich unweigerlich mit. Da brechen so viele Emotionen hervor ... Und doch muss man das vielleicht dennoch nicht selber kennen, um die Botschaften (wenn auch nicht die Laufgefuehle) zu verstehen. Ich lese hier keine Buecher. ich hoere keine Radio. Ich sehe nicht fern. Ich werde nicht mit den Meinungen anderer Menschen gefuettert, muss mich nicht in irgen- deinen anderen Kontext einfuegen. Ich kann es nicht ertragen, mit anderen Menschen zusam- men zu sein; alle reden ununterbrochen, zu viele Worte und Meinungen, die auf nichts basieren. Alles ist Ober- flaeche, keine Tiefe. So viele Antworten, endlose Diskussionen im Fernsehen, ich wuenschte, alle hielten einfach die Klappe. In der Plastikwelt kann ich keine Orientierung finden, mir kommt alles vor wie Zeitverschwendung -- ich will mich nicht zwischen verschiedenen Arten von Scheisse entscheiden muessen, ich will zwischen gut und schlecht, oder zwischen gut und boese, zwischen Leben und Tod waehlen. [4] Es ist ein schwer greifbares Buch und doch ist seine Botschaft irgendwie ganz klar. Mich erinnert es an vieles und verdeutlicht mir vieles. 4) Helene Hanff: 84, Charing Cross Road [de] Wow! Wie sehr wuensche ich mir so eine Verbindung! ... diesen Witz und die ausdauernde Kreativitaet. Das Buch ist wie die Geschichte von Platebee im DG-Course-Review-Forum. [5] Kann man das aktiv ges- talten oder passiert es nur in seltenen Momenten von alleine, wenn zufaellig alles passend zusammenkommt? Dieser Briefwechsel ist einfach schoen. 5) Juli Zeh: Über Menschen [de] Der Februar endete mit diesem Buch. Eigentlich war mir recht egal, welches Buch von Juli Zeh ich lese, ich hatte nur Lust auf eines von ihr. Dieses war in der Zeit ganz passend, nicht so sehr fuer mich selbst aber fuer Themen von Freunden von mir. Gut gefaellt mir die klare Kritik an vermeintlich einfachen Loesungen fuer die vermeintlich einfachen Probleme der Welt: Sie beharrt darauf, sich keine klare Meinung bilden zu muessen, wenn es keine einfache Loesung gibt, und die gibt es momentan noch weniger als sonst. Weder Politik- er noch Virologen verfuegen ueber Wahrheiten, die man einfach nur befolgen muesste, damit alles gut wird. Meistens besteht das Leben aus Trial and Error, und der Mensch kann viel weniger begreifen und kontrollieren, als er glaubt. Auf dieses Dilemma kann weder Nichtstun noch Aktionnismus die richtige Antwort sein. Nach Doras Ansicht geht es um Augenmass beim Handlen und groesst- moegliche Ehrlichkeit in der Kommunikation. Vorausset- zung von Ehrlichkeit ist das Bekenntnis zum Nicht- genau-Wissen. [6] Fast alles ist sehr kompliziert und kaum loesbar. 6) Frank Norris: McTeague [en] Auf dieses Buch, das ich den Maerz ueber gelesen habe, bin ich ueber eine Buchempfehlungsliste von Stephen King gekommen. Daraufhin habe ich es gekauft und mich ganz darauf eingelassen was fuer eine Geschichte ich darin finden wuerde. Sie hat jeden- falls nicht enttaeuscht. Anfangs hat es eine Weile gedauert, bis ich recht reingekommen bin, in die Sprache, in die Zeit, in die Lebenswelt. Dann ist das Buch immer besser geworden. Dafuer, dass das Buch von 1899 ist, hat es nichts von seiner Staerke eingebuesst. Old Grannis drew up his chair to the wall near where he knew she was sitting. The minutes passed; side by side and separated by only a couple of inches of board, the two old people sat there together while the afternoon grew darker. But for Old Grannis all was different that evening. There was nothing for him to do. His hands lay idly in his lap. His table with its pile of pamphlets was in a far corner of the room, and from time to time, stirred with an uncertain trouble, he turned his head and looked at it sadly, reflecting that he would never use it again. The absence of his accustomed work seemed to leave something out of his life. It did not appear to him that he could be the same to Miss Baker now; their little habits were disarranged; their customs broken up. He could no longer fancy himself so near to her. They would drift apart now, and she would no longer make herself a cup of tea and keep company with him when she knew that he would never again sit before his table binding uncut pamphlets. He had sold his happi- ness for money; he had bartered all his tardy romance for some miserable bank notes. He had not forseen that it would be like this. A vast regret welled up within him. [7] 7) Paolo Cognetti: Acht Berge [de] Im Anschluss, im April, habe ich dieses Buch gelesen, das ich beim Stoebern in der Buchhandlung gefunden habe. Ich mag das Buch. Es ist eine gute und nachdenkliche Geschichte ... auch ein- fach, schlicht, unspektakulaer ... auf den ersten Blick unbedeu- tender als sie ist. ``Ja'', sagte Bruno. ``Ich bin genau wie sie.'' Er legte eine Pause ein, um die Worte auf mich wirken zu lassen, und sagte dann: ``Nur dass sie eine Frau ist. Wenn ich in den Wald gehe, hat niemand was dagegen. Aber wenn es eine Frau tut, gilt sie als Hexe. Wenn ich schweige, heisst es nur `na und?'. Dann bin ich eben ein Mann, der nicht viel redet. Aber eine Frau, die nicht redet, kann nicht ganz dicht sein.'' [8] 8) Mary Ann Horton: Trailblazer [en] Dieses Buch wurde von der Autorin selbst (etwas untypisch) auf der TUHS-Mailingliste erwaehnt (wozu es aber durchaus einigen Bezug hat). Ende April habe ich es gelesen. Der Bell-Labs-Kontext war ein guter Einstiegspunkt fuer mich, von dem aus ich in den Themenkomplex Transgender eintauchen konnte. Interessant war fuer mich sowohl die historische Entwicklung als auch die persoenliche Lebensgeschichte. Mit allem konnte ich viel anfangen und habe viel gelernt. A young man hit me with a difficult question. ``When you're home in your boxers, who are you?'' I shuddered in revulsion. ``Eww. I can't imagine wear- ing boxers. I prefer panties'', I replied. Years later, I understood his real question. I'd never heard the phrase ``in your boxers''. He meant ``alone and not talking to anyone''. He'd asked a profound question. When I presented differently, I became whoev- er I needed to be for the situation. Many women did this every day, changing from ``working woman'' to ``mom'' and then to ``wife'' after the kids were in bed. This wasn't a part of my experience and I'd never thought about it. Who was I? I was me. Attaching a name and a gender was external. By myself, I didn't think of genders. I thought of actions, comfort, and what was next on my things to do. I was comfortable alone, being myself, just being. [9] Buecher wie dieses sollten wir oefter lesen. Allgemein gesprochen brauchen wir Buecher, die uns bisher fremde Sichtweisen, Gefuehls- und Denkwelten aufzeigen. Wir muessen uns hineindenken koennen, mit den anderen Augen die Welt sehen, fuehlen was sie fuehlen. Dabei ist nicht so wichtig, um welches Thema es geht, wichtig ist, dass wir die Welt und uns selbst auf eine andere Weise betrachten koennen. 9) Bell Hooks: Alles ueber Liebe [de] Das Buch hatte ich schon laenger im Regal stehen. Im Mai habe ich es dann gelesen. Ich bin geteilter Meinung. Ich weiss nicht so ganz wie ich es finden soll. Es pendelt immer wieder zwischen allgemeingueltigen Aussagen und persoenlichen Erfahrungen und Ansichten. Teilweise waren mir die Aussagen zu eng in der eigenen Sicht begrenzt und die Unterschiedlichkeit der Lebenssituationen und Erfahrungen von Menschen sind aus dem Blick verloren gegangen. An anderen Stellen war der Ansatz wieder genereller und von ihr selbst entkoppelt. Da haette ich mir etwas mehr Stimmigkeit gewuenscht. Am meisten Schwierigkeiten hatte ich mit der Spiritualitaet, die das ganze Buch durchzieht. Man kann es (abgesehen von ein, zwei Stellen) schon lesen und sich dieses eine Wort wegdenken, ohne dass die Aussagen sinnveraendert werden. Fuer Hooks ist das halt verwoben: Sie kann Liebe nicht ohne Spiritualitaet denken, wohingegen diese zwei Themen fuer mich orthogonal sind. Immerhin sind wir uns hierin einig: Man muss sich nur mal vorstellen, wie anders unser Le- ben aussehen koennte, wenn all die Menschen, die behaupten, Christen zu sein, oder sich fuer religioes halten, allen ein Beispiel geben und ihre Mitmenschen tatsaechlich lieben wuerden. [10] Das Buch hatte einige Herausforderungen fuer mich zu bieten, aber wenn man diese mal ueberwindet und sich mehr der Inspiration wid- met, die das Buch bietet, dann ist darin einiges wertvolle zu finden. Der Titel ist passend: alle moeglichen Aspekte von Liebe werden betrachtet. Die generelle Betrachtung von Liebe -- naem- lich als etwas, das man tut, und nicht als etwas, das man hat, -- und viele kleinere Betrachtungswinkel zu einzelnen Aspekten machen viel Sinn, finde ich. Die findet man auch in anderen Buechern. Somit fuegt sich das Werk in die Umgebungsliteratur ein. Ich habe fuer mich einiges aus dem Buch mitnehmen koennen. ich finde es durchaus gut, aber nicht ueberragend. Uns muss klar sein, dass Wissen als wesentliches Ele- ment der Liebe unverzichtbar ist, weil wir taeglich mit Botschaften bombardiert werden, die besagen, dass es bei der Liebe um etwas Geheimnisvolles und Unbekanntes geht, das man nicht analysieren kann. In manchen Filmen sieht man Liebende, die nie miteinander reden. Sie gehen miteinander ins Bett, ohne je ueber ihre Koerper zu sprechen, ihre sexuellen Beduerfnisse, ihre Vor- lieben und Abneigungen. Die Massenmedien vermitteln uns die Botschaft, dass Liebe durch Wissen an Attraktivi- taet verliert und nur durch Unwissen eine erotische und grenzueberschreitende Komponente erhaelt. Diese Botschaften werden von profitorientierten Produzent*innen an uns herangetragen, die keine Ahnung von der Kunst des Liebens haben und ihre mystifizierten Vorstellungen als Ersatz anbieten, weil sie nicht wissen, wie man eine liebevolle Interaktion authentisch darstellt. [11] 10) Arthur Golden: Die Geisha [de] Dieses Buch habe ich im Juni, hauptsaechlich in Berlin gelesen. Dort war es mir ein paar Monate frueher auch ueber den Weg gelaufen. Es ist ein grossartiges Buch, in der Art von ``Sho- gun'', ``Doktor Schiwago'' und ``Middlesex'': die Geschichte eines Lebens. Diese Buecher mag ich: Sie sind dick, ich kann lange und tief eintauchen, sie haben Gehalt, ich lerne etwas ueber andere Leben, andere Kulturen, verschiedene Arten des Umgangs mit Herausforderungen des Lebens. Sie bieten immer wieder Aha-Erlebnisse, wie dieses: Ein paar Wochen spaeter fragte ich ihn dann noch ein- mal: ``Warum haben Sie Ihre Arbeit auf der anderen Seite der Stadt aufgegeben, Ikeda-san?'' Und er antwor- tete: ``Seit vielen Jahren, Herr Iwamura, wollte ich schon in Ihrer Firma arbeiten, aber Sie haben mich nie dazu aufgefordert. Sie haben mich immer gerufen, wenn Sie ein Problem hatten, aber Sie haben mich nie ge- beten, fuer Sie zu arbeiten. Dann wurde mir eines Tages klar, dass Sie mich niemals bitten wuerden, weil Sie mich nicht von einem Ihrer Lieferanten abwerben und Ihre Geschaeftsbeziehung belasten wollten. Nur wenn ich meine Arbeit zuerst kuendigte, wuerde ich Ihnen damit Gelegenheit geben, mich einzustellen. Also habe ich gekuendigt.'' [12] Ein grossartiges Buch! 11) J. F. Cooper: Lederstrumpf [de] Die folgenden zwei Monate war ich mit ``Lederstrumpf'' beschaef- tigt. Das Buch hat mich schon viele Jahre aus dem Buecherregal meiner Eltern angeschaut. Es ist dort aber immer nur gestanden, ohne Kommentar, ohne dass klar gewesen waere, ob sie es jemals gelesen haetten. Nachdem der Titel aber immer wieder auftaucht, wollte ich es dann einfach mal lesen, um zu wissen, um was es sich dabei tatsaechlich handelt. Was ich gefunden habe, war nicht was ich erwartet hatte, es war aber besser und interessanter als das. Man haette wohl sagen koennen, ``Lederstrumpf'' sei eine anges- taubte Version von Karl Mays Geschichten. Tatsaechlich ist es na- tuerlich anders rum. Karl May hat massiv von J. F. Cooper abgeschrieben. Das schmaelert meine Bewertung von Karl May, nachdem mir klar wird, dass er nur ein Remixer war. Seine Leis- tung enthaelt kaum Neuschoepfungen, aber er hat die vielen frem- den Teile in seinem Remix perfektioniert. Old Shatterhand ist viel sympatischer als Falkenauge; Winnetou viel edler als Chinga- chgook ... doch sonst entsprechen sie sich weitgehend. Karl Mays Geschichten sind zu Lederstrumpf sowas wie die Hollywood-Variante eines europaeischen Films. Bei Cooper haben die Figuren deutlich mehr Schattierungen, sie sind nicht so ein- deutig klassifiziert. Falkenauge ist gebrechlich. Chingachgook ist im Alter zu einem kaum ertraeglichen Wrack degeneriert ... Es ist halt nicht einfach eine nette Geschichte (wie bei Karl May), sondern zu einem grossen Teil Gesellschafts-, Kultur- und In- vasionskritik zur Zeit der Eroberung Nordmerikas durch die Euro- paeer. ``Und es wird nicht lange dauern, bis die verwuenschten Holzfaeller ihnen folgen, und die Praerie wird bevoelk- ert werden bis an den Fuss der Rocky Mountains.'' ``Und wo waren die Haeuptlinge der Pawnees, als der Handel geschlossen wurde'', rief ploetzlich der junge Krieger, und ein bedrohliches Funkeln kam in seine Au- gen, ``kann man ein Volk verkaufen wie ein Biberfell?'' ``Sehr richtig'', entgegnete der Trapper, ``und du koenntest auch fragen, wo bleiben Wahrheit und Ehrli- chkeit bei dem Handel? Aber die Macht beugt das Recht auf dieser Erde. Nach dem Gesetz des Grossen Geistes gehoeren euch die Praerien, aber das Gesetz der Lang- messer kuemmert sich nicht um euer Recht.'' [13] ``Lederstrumpf'' ein ein wertvolles Werk. Von den fuenf Buechern hat mir ``Die Ansiedler'' am besten gefallen. Bemerkenswert ist fuer mich auch, dass der ``Held'' Falkenauge/Bumppo altern und schwach werden darf. Ebenso steht auch Chingachgook nicht ueber der Geschichte, sondern erfuellt seine Funktion -- keine Helden- funktion, sondern eine Gesellschaftskritikfunktion. Kein Akteur ist heilig und unsterblich, sondern alle haben Fehler, werden alt und stur, lassen sich auf Dinge ein, die sie in der Bluete ihrer Kraft niemals akzeptiert haetten, und sterben letztlich. -- Diese Geschichte ist keine Hollywood-Fantasie, sondern hat noch Bezug zum tatsaechlichen Leben. 12) Walter Scott: Ivanhoe [de] Ende August habe ich im Anflug historischer Romane gleich noch ``Ivanhoe'' nachgeschoben, das ich als Kind/Jugendlicher mal bekommen habe, damals aber nie oder nicht richtig gelesen habe. Damals konnte ich noch nichts damit anfangen. Nun war es aber eine interessante Geschichte. Zwischendurch blitzt auch der sarkastische Humor Scotts auf: So endete das merkwuerdige Treffen von Ashby-de-la- Zouche, eines der am tapfersten durchkaempften Turniere jener Zeit; denn obgleich nur vier Ritter tot auf dem Feld blieben, waren doch gegen dreissig schwer verwun- det, von denen fuenf nie wieder genasen. Mehrere andere waren fuer ihr ganzes Leben Krueppel geworden; und die, welche am besten davonkamen, trugen die Spuren ihrer Wunden bis zum Grab. Daher wird es in den alten Urkun- den immer erwaehnt als: ``Der edle und lustige Waffen- gang zu Ashby.'' [14] 13) Jennifer Robertson: Das Vermaechtnis des Schwerts [de] Schon laenger wollte ich mich mal mit Fantasyliteratur beschaef- tigen. Ich war nur immer abgeschreckt davon, schlechte, billige Geschichten zu lesen, weil mir die Quote der Moechtegernautor_innen dort am groessten zu sein scheint. Dann habe ich auf einem Tauschmarkt dieses Buch liegen gesehen und es einfach mal mitgenommen. Im September habe ich es gelesen. Letztlich war es dann leider schon etwa so wie ich erwartet und befuerchtet hatte: Die Geschichte war voller antiquierter Rollen- bilder und Gesellschaftsstrukturen. Auch die moralischen Bewer- tungen habe ich anstrengend gefunden. Fantasy ginge durch seine Losgeloestheit von der Realitaet ja gerade auch anders -- wie es die Science-Fiction demonstriert -- aber das Fantasy-Genre scheint mir nur immer wieder die gleichen ueberholten Konzepte zu wiederholen ... in einer Art Bestreben, sich in eine dem Hollywood-Kino aehnlichen Nicht-Nachdenken-Haltung reinzulullen. Das mag fuer manche wohl verlockend sein. :-/ Schriftstellerisch war ich auch etwas enttaeuscht. Es hat am Handwerkszeug und der Technik gemangelt. Aus meiner Sicht sollte jeder Aspekt einer Geschichte einen Zweck erfuellen. Die vielen erfundenen Strukturen der Geschichtenwelt mit irgendwelchen Eigennamen haben aus meiner Sicht keinen Zweck fuer die Geschichte sondern befriedigen in erster Linie das kreative Aus- toben der Autorin. Besonders im zweiten Teil des Buches hat die Geschichte dann auch zu viele Abkuerzungen genommen. Bedeutende Ereignisse der Geschichte wurden nicht angemessen vorbereitet. Zu oft gab es unerwartete Wendungen. Tempo und Fluss der Geschichte haben nicht mehr gepasst. Somit bleibe ich weiter auf der Suche nach guter Fantasy- Literatur. 14) Nina Weger: Ein Krokodil taucht ab [de] Dieses Oktober-Buch hat mir ein Kind vorgeschlagen, also habe ich es einfach mal gelesen. Die Geschichte hat mir recht gut gefal- len. Sie transportiert einige wertvolle Botschaften und zeigt vorbildhafte Entwicklungsprozesse der Akteure. Wir brauchen mehr solcher Geschichten, bei denen auch in Kindern und Jugendlichen Entwicklungsprozesse passieren und sowohl Situationen wie auch Akteure Schattierungen und Facetten haben. Insbesondere fuer Heranwachsende ist das Darstellen von Entwicklungsprozessen viel wichtiger als Einteilungen in Gut und Boese. 15) Dana S. Eliot: Taberna Libraria - Die Magische Schriftrolle [de] Dieses Buch habe ich bei meinem Besuch mit Anja im Fantasy Empire in Tuebingen gekauft. Es war im November ein weiterer Versuch im Fantasy-Genre. Der war jedenfalls besser als der letzte Versuch, dennoch habe ich einige Kritik. Es wirkt einfach so, wie wenn in der Fantasyl- iteratur das Lektorat nicht richtig funktionieren wuerde oder man einfach alles veroeffentlicht. Ich sehe beim einfachen Durchlesen dieser Buecher dutzende Stellen, die verbessert werden sollten. Teilweise sind es Stilbrueche, wie Betonstufen in einem alten Gebaeude, teilweise sind es simple Fehler, wie nicht identische Dialoge zwischen Echtzeit und Rueckblende, teilweise nicht wirk- lich ueberzeugende Ausfuehrungen (u.a. auch auf den ersten Seiten der Geschichte, die doch eigentlich die meiste Aufmerksamkeit erhalten und am meisten aufpoliert sein sollten). Sowas muss einen Lektor doch ins Auge springen. Das verstehe ich einfach nicht. Immerhin hat dieses Buch eine originell genuge Idee und die Story macht Spass. Klischees sind im Vergleich zum September-Buch deutlich reduziert. Die Charaktere haben Charakter und Leben. Die beste Idee des Buches ist das Buch von Bergolin, das als Haustier gehalten wird: Corries Blick zuckte in die Ecke hinter ihrem Muellei- mer, von wo das Geraeusch unzweifelhaft gekommen war. Erleichtert atmete sie auf. ``Du bist das!'' In der Dunkelheit sass das Buch von Bergolin, das sich von seinem Platz unter dem Couchtisch entfernt hatte. Es balancierte unter dem Fenster auf dem Ruecken und kratzte mit den Seiten ueber die Wand. ``Warum bist du denn so aufgeregt?'' [15] Genug Lust auf die weiteren Teile der Serie habe ich aber nicht. 16) Douglas Coupland: Player One [en] Im Anschluss Ende November wollte ich mal wieder gute Literatur lesen und bin beim Berliner Buechertisch auf dieses Buch gekom- men, dessen Titel zu ``Ready Player One'' passt ... und ich mag nunmal derartige Verknuepfungen. Nun, dieses Buch *war* etwas anderes! Irgendwas zwischen Taran- tino und Zombie-Apokalypse ... und einfach gut geschrieben (eben das, was ich bei Fantasybuechern vermisse). Ich kann aus diesem 230-Seiten-Buch eine gute Stelle nach der an- deren rauspicken: A man walks into a bookstore and looks up books on loneliness, and every woman in the store hits on him. A woman looks for books on loneliness, and the store clears out. [16] Und: The thing about being poor is that it takes up all your time. [17] Und: Rachel looks confused. She asks Luke, ``What's wrong with being a slut? I would think society would welcome fertile women fully enthusiastic about reproducing with a wide variety of genes so as to propagate the species in a genetically healthy and sensible manner.'' [18] Menschen mit autistischen Zuegen koennen einfach grossartig sein! Sie zeigen uns die als normal angesehene Absurditaet unseres Gesellschaftsverhaltens. Neurotypical people are an endless source of puzzles. Religion is one of the biggest. [19] Und: Most people learn nothing from life. Or if they do, the conveniently forget what they've learned when it suits their needs. [20] Grossartig! So muss ein Buch sein! :-) Den Dezember verbringe ich nun mit Tolstois ``Krieg und Frieden'', das noch einige Zeit ins naechste Jahr reichen wird. Davon dann im naechstjaehrigen Buecherrueckblick. Damit waren es nur 16,5 Buecher dieses Jahr (nach 20,5, 30,5, 37, 30, 28, 16, 22, 33, 26, 13, 15, 21 in den Vorjahren). Allerdings waren ein paar Schwergewichte dabei, so dass das in Ordnung geht. 4 Buecher waren auf Englisch, die anderen 12 auf Deutsch. Es waren 12 Romane und 4 autobiographische Werke mit Sachkontext. Es war weder ein Computerbuch noch eines von Stephen King dabei. Irgendwie war es schon ein seltsames Buecherjahr. Die meisten Buecher, die ich gelesen habe, waren aber richtig gut, darum kann ich mich nicht beklagen. Die kommenden Monate stehen ganz im Zeichen von ``Krieg und Frieden''. Mal sehen, wieviel Platz danach im naechsten Jahr noch bleibt. ;-) [0] p. 192 [1] p. 238 [2] S. 72 f. [3] S. 237 [4] S. 93 [5] https://www.dgcoursereview.com/threads/i-have-your- frisbee.83897/ [6] S. 28 [7] p. 254 f. [8] S. 163 [9] p. 130 [10] S. 116 [11] S. 140 [12] S. 550 [13] S. 581 f. [14] S. 87 [15] S. 303 [16] p. 8 [17] p. 21 [18] p. 69 [19] p. 74 [20] p. 196 http://marmaro.de/apov/ markus schnalke