2023-12-17 herz und hirn Schreiben ist Denken Prozesse Schon viele Jahre begleiten mich diese Worte von Murakami: Wie gesagt, bedeutet Schreiben Denken fuer mich, wie fuer die meisten Menschen, die berufsmaessig schreiben. Es ist also nicht so, dass ich meine Gedanken in Worte fasse, sondern ich denke, waehrend ich etwas verfasse. Die Taetigkeit des Schreibens regt mein Denken an. Beim Ueberarbeiten und Umschreiben vertiefen sich meine Gedanken. [0] Sie waren damals augenoeffnend fuer mich. Durch sie ist mir klar geworden was ich zuvor nicht greifen konnte: Schreiben (und Reden) *ist* bei mir der Prozess des Denkens. In den letzten Jahren ist mir zudem deutlicher geworden, dass ich das Schreiben (und das Reden) brauche, um denken zu koennen. In den letzten Tagen habe ich auf eine lange, inhaltsschwere Mail eine Antwort formuliert. Der Antwortentwurf ist mit jedem Tag noch laenger geworden ... immer mehr relevante Nebengedanken sind zum Vorschein gekommen. Scheinbar einfache Sachverhalte haben nach und nach mehr Differenziertheit gefordert. ... der Antwortentwurf hat sich immer mehr zu einem Schwergewicht entwickelt, das ich immer weniger abschicken konnte. Die Arbeit war aber keineswegs umsonst. Die Nebenaspekte haette ich ohne das ausformulierte Wort nicht freigelegt. Die Notwendig- keit zur Differenziertheit hat sich erst gezeigt als ich meine vordraengendsten Gedanken abgelegt und auf mich wirken habe lassen koennen. -- Manches, was in der geaeusserten, festgelegten Form deutlich ersichtlich ist, war in der Gedankenvorstellung kaum moeglich zu erkennen. -- Die Gedanken muessen formuliert werden! Es ist so viel in mir passiert, vom ersten Gedanken bis jetzt. Es steckt ein Prozess, eine Reise, eine Entwicklung in diesem Email-Entwurf ... eine Entwicklung, die nur passiert ist, weil ich geschrieben habe ... und weil ich dem Entwurf Zeit gegeben habe. Haette ich ihn am ersten Tag abgeschickt, so waere vieles nicht passiert. Es braucht den Abstand zum eigenen Gedanken, und der entsteht (bei mir) durch seine Aeusserung und nach einer Pause wieder darauf zurueckzukommen. Zugleich passiert dabei aber auch was ich vor einer Weile schon- mal geschrieben habe: Es gibt ein altes Sprichwort, sagte er: Wenn ein auslaendischer Journalist in den Nahen Osten reist und eine Woche bleibt, faehrt er nach Hause und schreibt ein Buch, in dem er eine Patentloesung fuer alle Prob- leme dort praesentiert. Bleibt er einen Monat, schreibt er einen Artikel fuer ein Magazin oder eine Zeitung, gespickt mit ``wenn'', ``aber'' und ``andererseits''. Bleibt er ein Jahr, schreibt er gar nichts. [1] Die Situation differenziert sich immer mehr, bis sie einen am Ende durch ihre Komplexitaet und Nichtentscheidbarkeit erschlaegt. Will man handlungsfaehig bleiben, so muss man rechtzeitig den Absprung schaffen. Will man Erkenntnisse gewinnen, ohne handeln zu muessen, dann kann man tiefer eintauchen. ... Manchmal ist es auch gut, gar nicht zu denken, sondern nur auf die eigenen, auf einen selbst bezogenen Empfindungen zu achten. Dieser (auf den ersten Blick ungenuegende) Ansatz scheint mir manchmal gar nicht so schlecht zu sein. Ueberhaupt taete es mir wohl gut, mehr bei mir selbst zu bleiben und mich selbst zu sein ... klar, wertungsfrei und im Moment verhaftet mich selbst sein. Das wuerde vermutlich Gutes bewirken. -- Daran sollte ich mich halten. [0] Haruki Murakami: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede, S. 117 [1] Lisa Halliday: Asymmetrie, S. 226 http://marmaro.de/apov/ markus schnalke