2022-05-04 gesellschaftsanalyse Put yourself out of Business Lebensnahes Unix Ich mag Unix nicht nur aus technischen Gruenden, sondern ich mag es vor allem wegen der ihm zugrunde liegenden Ideen. Unix ist das Werk einiger sehr schlauer Koepfe, die verblueffend klar denken koennen. Auch wenn diese Gedanken, Betrachtungsweisen und die daraus resultierenden Ansaetze und Konzepte in erster Linie technischer Natur sind, so lassen sie sich erstaunlich gut in andere Gebiete uebertragen. Edsger Dijkstra (der allerdings nicht zu Unix gehoert) zeigt hier eine solche klarere tiefgruendige Betrachtungsweise auf: My point today is that, if we wish to count lines of code, we should not regard them as ``lines produced'' but as ``lines spent'': the current conventional wis- dom is so foolish as to book that count on the wrong side of the ledger. Das hier beschriebene Phaenomen passt gleichermassen fuer Hers- teller aller Art von Dingen, die Ressourcen einsetzen und deren Produkte Folgekosten haben. Diese Folgekosten werden (auch heute noch) ebensowenig beruecksichtigt wie beim Programmieren. Dijkstra weist darauf hin, dass man sich den ganzen Lebenszyklus anschauen muss. Dann erkennt man, dass hinten raus viel mehr wenn auch schwerer sichtbare Kosten erzeugt werden als in der Produk- tionsphase zu Beginn. Nicht anders verhaelt es sich bei den oeko- logischen Aspekten unserer Wirtschaftswelt. (Die von Dijkstra demonstrierte umgekehrte Sicht findet sich auch wieder wenn krt betont, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer verkehrt herum benannt seien, oder wenn Götz Werner (Gruender von dm) die Personalkosten als Mitarbeitereinkommen ansieht. Die ueblichen Begriffe reflektieren uns die dominanten Sichtweisen. Anhand von ihnen erkennen wir was als wichtig und was als unwichtig angesehen wird ... und koennen das damit abgleichen mit dem was *wir* als den Kern der Sache ansehen.) Dijkstra gehoert zwar nicht ins Unix-Umfeld, er passt aber mit seinem Denken gut dazu. Er war mir hier ein gutes Einstiegs- beispiel. Nun aber tatsaechlich zu Unix: As a programmer, it is your job, to put yourself out of business. [0] Wie revolutionaer diese Betrachtungsweise ist! ... als Ziel zu haben, sich selbst unnoetig zu machen ... Und doch: Wie sinnvoll und passend diese Betrachtung ist! Revolutionaer ist sie, da fast niemand so denkt und unsere ganze Kultur entgegengesetzt funktioniert. Selbst in der Erziehung, wo dieses Ziel offensichtlich passend sein sollte, sieht die Realitaet anders aus: Eltern wollen ge- braucht sein. Eltern bauen Abhaengigkeiten auf. Eltern streben gar nicht an, unnoetig zu werden. Dabei muss das doch notwendi- gerweise das zentrale Ziel der Eltern-Kind-Beziehung sein. Gleichermassen im Job: Die Leute versuchen wichtig zu sein. Sie wollen gebraucht werden. Sie wollen an zentralen Stellen sitzen. Dabei waere es doch viel besser wenn gar niemandem auffallen wuerde, wenn ein wichtiger Mitarbeiter zwei Wochen im Urlaub ist. ... wenn alles ganz normal weiter laufen wuerde -- das waere doch super! Wenn man sein Wissen weiter gibt, dokumentiert und automatisiert, dann wird dies moeglich. Entgegen dem ueblichen Glauben verliert man damit nicht seinen Unternehmenswert sondern steigert ihn. ... ``the current conventional wisdom is so foolish as to book that count on the wrong side of the ledger''! Einen Mitarbeiter kurzzeitig nicht zu vermissen ist schliesslich etwas anderes als sein kreatives Potenzial fuer die Zukunft und die Arbeitseinsparungen, die er einbringen wird, zu verlieren. Wie irrsinnig doch das Ziel und das Streben nach Vollbeschaef- tigung ist! Niemand will eine Vollbeschaeftigung. Niemand will 40h in der Woche arbeiten muessen. Wir haben die falsche Perspek- tive und die falschen Begriffe. Was alle wollen ist gut leben zu koennen. Die Leute wollen nicht die Arbeit, sondern den Lohn der ihnen ihre Versorgung sichert. Aber sollte nicht das Ziel einer Gesellschaft sein, dass durch den Fortschritt immer weniger gear- beitet werden muss, und dennoch alle versorgt sind? Komisch, so wird das in der Politik kaum gesehen und auch nicht propagiert. Nun aber noch einen Schritt weiter mit den Worten von Doug McIl- roy. Die Aufgabe von Staaten, Regierungen und der Politik sollte ebenfalls sein, sich selbst unnoetig zu machen. Wie absurd ist in dem Kontext die Idee an der Macht bleiben zu wollen! Wie unpassend ist doch diese Idee in einer Demokratie! Das sich selbst unnoetig Machen betrifft alle moeglichen Einri- chtungen und Institutionen: Gefaengnisse sollten das Ziel haben, immer leerer zu werden. Muellverbrennungsanlagen sollten das Ziel haben, immer weniger zu tun zu haben. Auch Handwerker sollten ihr Wissen weitergeben, so dass sich die Menschen immer mehr selbst helfen koennen. Die Industrie sollte versuchen, sich abzuschaf- fen, indem ein Qualitaetsniveau erreicht wird, auf dem Dinge nicht mehr kaputt gehen und wenn doch, dann ganz einfach selber reapariert werden koennen. Und so weiter ... ... aber wir sind so doof, dass wir falsch herum bilanzieren. Das liegt daran, dass in unserer Bilanz die Gemeinschaft, das Gemeinwohl und die Natur nicht auftauchen. Wir interessieren uns nur fuer uns selbst und das auch noch mit kurzfristigem Fokus. Der Leitspruch scheint zu sein: Carpo diem! -- Ich und heute! ... Was interessiert mich sonstwer?! Was interessiert mich Mor- gen?! [0] Doug McIlroy http://marmaro.de/apov/ markus schnalke