2022-01-26 gesellschaftsanalyse Wachstum ueber alles Es fehlt an der Basis In den 70er Jahren hat der Club of Rome die Grenzen des Wachstums auf den Tisch gebracht. Auch wenn man es damals noch nicht recht geglaubt haben mag, fuenfzig Jahre spaeter sind die Be- grenztheiten kaum noch zu uebersehen. Heute stossen wir ueberall an sie. Wuerde man die Leute (juengere, aufgeschlossene, intelligente Menschen) fragen, so wuerde der Grossteil zustimmen, dass es diese Begrenztheit gibt und wir an sie stossen. Diese Ansicht scheint aber abstrakt zu sein, denn die gleichen Leute denken und verhalten sich dennoch als gaebe es sie nicht. Da ist ein Bruch, der normal zu sein scheint. Im Discgolf gibt die eine dominante, zentrale Idee der letzten Jahre, namens ``Grow the Sport!''. Sie wirkt generell akzeptiert. Sie ist die Norm. Wenn man nicht vorbehaltslos zustimmt dann wird man komisch angeschaut. Es ist krass wie unhinterfragt diese Idee verbreitet wird. Ich habe das immer irritierend gefunden. Es hat sich angefuehlt wie ein Amen in der Kirche, bei dem jeder sich verpflichtet fuehlt, es auch zu sagen, ohne dafuer eine eigene Entscheidung zu treffen. Und wenn man es nicht macht, sind alle irritiert. Stellt man es gar in Frage, so wenden sich die Leute eher ab und bleiben unter sich als sich damit auseinander zu setzen. In einem deutschen Discgolf-Podcast haben zwei juengere, reflek- tierte, studierte Erwachsene mit modernen Ansichten ausfuehrlich ueber das Wachstum im Sport gesprochen. Sie haben nicht einfach ``Grow the Sport!'' in die Welt gebruellt, sondern die aktuelle Situation analysiert und davon ausgehend allerlei gefordert: Eben auch mehr Mitglieder, mehr Parcours, mehr Geld, mehr Bekanntheit, usw. ... also letztlich genau die Inhalte der ``Grow the Sport''-Idee. Kurze Zeit spaeter hoere ich ein Gespraech mit einem deutschen Grandmaster Backgammon-Spieler und auch dort taucht die Idee des Wachstums auf: Wie macht man Backgammon bekannter? Wie fliesst mehr Geld in den Sport? usw. Auch im Faustball (das eine langsam aussterbende Sportart ist) habe ich diese Ideen und Denkweisen schon gehoert. Findet das denn niemand komisch? Sieht da niemand das Problem? Schafft da niemand den Blick ueber den eigenen Tellerrand hinaus zu heben? Nicht nur die Ressourcen der Welt sondern auch die Zahl der Men- schen und deren Zeit ist begrenzt. Wenn nun mehr Menschen Discgolf spielen sollen, wo kommen die her? Was machen die bisher in der Zeit in der sie zukuenftig discgol- fen sollen? (Das ist Systemdenken, das uns allen so sehr fehlt!) Ich denke, es gibt zwei Moeglichkeiten: Entweder sie machen der- zeit nichts oder sie manchen etwas anderes. Was genau heisst aber: sie machen nichts? Sich auf dem Sofa zu erholen, aus dem Fenster zu schauen oder zu schlafen ist ja alles auch etwas, das durchaus auch wertvoll sein kann. So gesehen gibt es vielleicht doch nur einen Fall: Sie tun etwas anderes stattdessen. Damit allerdings fordern die Wachstumsverfechter genau genommen, dass die Leute ihre anderen Taetigkeiten aufgeben und *stattdessen* Discgolfen sollen. Das ist ganz schoen anmassend! Wenn ich davon ausgehe, dass die Menschen nicht so auf die eigene Weltsicht begrenzt sind, dass sie blind hinausrufen, dass ihre eigenen Dinge die besten sind, dann muessen sie doch aus ir- gendwelchen Gruenden der Meinung sein, dass Discgolf besser ist als andere Taetigkeiten. Ja, welche anderen Taetigkeiten eigentlich? Sollte man eher Discgolfen als Fussballspielen? Oder als Tischtennis? Oder als Faustball? Was ist mit Geigespielen? Oder mit Kreuzwortraetseln? Lesen? Computerspielen? Fernsehguck- en? Kochen? Physiklernen? Politischer Aktivitaet? Neben der Oma auf der Bank am Ententeich sitzen? Baeume pflanzen? Den Wolken zuschauen? Sex haben? -- Besser als was ist Discgolf? Und Backgammon, das ja auch besser zu sein scheint als andere Taetigkeiten, ist das noch besser als Discgolf? Oder umgekehrt? Oder sind die gleich gut? (Sind alle die wachsen wollen gleich gut?) Na gut, es war vielleicht unfair, die Taetigkeiten so gegenueber zu stellen. Schauen wir doch lieber auf Kinder, die sind ja eine wachsende Ressource. Die muessen nichts anderes dafuer aufgeben, sondern koennen gleich mit Discgolf anfangen ... oder mit Back- gammon? Oder doch mehr Schulbildung? Oder im Wald spielen? -- Mist! Das gleiche Problem! Jedes Mehr an einer Stelle ist -- in einer begrenzten Welt -- ein Weniger an einer anderen Stelle. (Das ist Systemdenken.) Ganz schoen doof, das so zu betrachten ... jetzt kann man gar nicht mehr guten Gewissens mehr fordern, weil das gleichzeitig heissen muss, dass man anderen damit weniger zugesteht ... und wehe man muesste auch noch sagen von wem man das wegnehmen will, das man sich selber dazu schlaegt. Man stelle sich nur vor: Alle sitzen an einem Tisch und jeder hat ein Stueck Kuchen auf dem Teller. Nun soll man aufstehen und sich von den anderen Tellern so viel auf den eigenen haeufen wie man richtig findet. Das muss man natuerlich jedem gleichermassen zugestehen ... Wenn man dabei den anderen in die Augen schaut und sagt: ``Ich nehme mir diesen Teil von deinem Kuchen, weil ich finde, dass meine Taetigkeit besser ist als deine.'', dann wirkt das ganz anders als wenn man nur ganz undefiniert mehr Wachstum fordert. Dieses Wachstumsrufen basiert auf zwei Grundlagen: (1) Der Beschraenktheit der eigenen Perspektive und der eigenen Beduerfnisse auf sich selbst. (2) Der Konkurrenzidee und dem Buhlen um Anteile. Keines davon finde ich gut. Die Forderung nach mehr Geld und nach Kommerzialisierung passt da dazu. Sie finde ich aus den gleichen Gruenden schlecht. Das alles ist sowas von falsch. Es ist schon von der Grundidee, von den Denkweisen und den Blickrichtungen falsch. Zugleich zeigt es, *was* eigentlich falsch ist in unserer Gesellschaft und Men- schheit. Was sagt ein (abstraktes!) Anerkennen eines oekologischen (und humanistischen) Problems aus, wenn alles Verhalten zeigt, dass die Denkweisen, die uns das Problem beschert haben, unveraendert vorherrschen? Was sagt es aus, wenn sie nicht als Widerspruch gesehen werden und ja noch nicht mal ueberhaupt erkannt werden? Es fehlt an der Basis! -- Ja, genau, da habt ihr recht: es fehlt an der Basis ... jedoch nicht an der Mitgliederbasis, sondern an der Basis unserer Wahrnehmung, unserer Denkweisen, unserer Re- flexionen, den Werten und den Konsequenzen. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke