2021-10-24 the real world Formale Sprachen Harfen & Mathematik Heute sitze ich mit einer Menge von Gedankenfetzen da, weiss aber nicht wie ich sie strukturieren soll, wo der rote Faden ist oder auch nur, wo ich beginnen soll. Es ist wohl am einfachsten, ich rekapituliere wie eines zum anderen gekommen ist. Begonnen hat es damit, dass ich die Wikipedia-Seite zur Harfe gelesen habe. Diese beginnt mit folgender Beschreibung: Die Harfe ist ein Saiteninstrument (Chordophon) und gemäß der Tonproduktion ein Zupfinstrument. Unter den drei Grundtypen der Saiteninstrumente, die in der Hornbostel-Sachs-Systematik nach der Anordnung der Saiten auf dem Saitenträger in Harfen, Zithern und Lau- ten eingeteilt werden, ist die Harfe als ein Instru- ment, genauer ein zusammengesetztes Chordophon, charak- terisiert, bei dem die Saitenebene senkrecht zur Resonanzdecke verläuft. Keine Person, die Harfe spielt, haette das so geschrieben. Dies sind die Worte eines Physikers oder Mathematikers. Natuerlich hat die Wikipedia nicht die Aufgabe, potenziell zukuenftige Harfisten das Instrument schmackhaft zu machen, sondern sie soll Personen, die nicht wissen was eine Harfe ist und wie diese funktioniert, sie beschreiben. Dieses Ziel wird im zitierten Abschnitt verfolgt ... doch in was fuer einer Sprache! War es nicht zu viel des Gu- ten? Oder ist diese sachliche Strukturiertheit, die die Sache so unglaublich abstrakt betrachtet, genau das was wir brauchen? Ist eine solche Betrachtung schoen? Die meisten werden wider- sprechen, doch sie besitzt eine strukturelle Klarheit der auch eine Schoenheit innewohnt. Das hat mich zur formalen Sprache und mathematischen Notation ge- bracht. Meinem Eindruck nach wird ihr Nutzen in der Allgemein- bevoelkerung nicht genug geschaetzt. Ebenso wie Schreiben und Lesen muss sie zuerst erlernt werden. Erst wenn man dazu faehig ist (ohne grosse Anstrengung), dann geniesst man ihre kompakte Ausdrucksstaerke und Eindeutigkeit. Ich glaube, vielen ist gar nicht klar wie schrecklich und schwer verstaendlich mathematische Sachverhalte in Prosa ausgedrueckt sind. Dabei war dies vor der Etablierung der mathematischen Notation auch unter Mathematikern ueblich. Man denke sich nur einen Satz wie: ``Von zwoelf Einzel- stuecken einer Gesamtheit forme man vier Teile von gleicher Stueckzahl. Ein jeder der gleich umfangreichen Haeufchen umfasst dann drei der Einzelstuecke.'' Das ist gleich aussagekraeftig wie die Formel ``10 : 4 = 3''. Die Prosabeschreibung muss viel mehr Zusatzinformation transpor- tieren, die in der Formel per Definition schon klar sind. Diese Definitionen muessen zuvor natuerlich erst gelernt werden. Die mathematische Notation ist eine hoehere Sprache als die Prosa- beschreibung, da sie mit weniger Text und zudem genauer beschreibt was ausgedrueckt werden soll. Wenn man den Sachverhalt nun nicht mit dieser alten Prosasprache, sondern modern beschreiben wuerde, dann wuerde man dies viel- leicht so tun: ``Teile zwoelf Stuecke in vier gleiche Haufen, so enthaelt jeder drei Stueck.'' Oder noch kompakter: ``Zwoelf Stueck durch vier geteilt ergibt drei.'' Je kompakter die Formu- lierung wird und je mehr wir uns dabei der mathematischen Nota- tion annaehern, desto mehr greifen wir unbewusst auf die Denkweisen und Konzepte der Mathematik zurueck. Da die mathema- tische Division so selbstverstaendlich und verinnerlicht fuer uns ist, koennen wir sie gar nicht mehr ohne das mathematische Ver- staendnis denken. Die Formel und die mathematische Betrachtung sind fuer uns der einfachste Weg geworden. Wie anders verhaelt es sich wenn es sich nicht um eine Division, sondern um ein Integral handelt! Die kompakte, aussagekraeftige und exakte mathematische Notation eines Integrals ist fuer die meisten unverstaendlich. Lieber haetten sie umstaendliche und ungenaue Prosabeschreibungen. -- Das Prinzip ist aber genau das gleiche wie bei der Division, bloss auf einem anderen Niveau. Gleichermassen gilt dies auch fuer die Noten-Notation in der Musik. Die formale Sprache ist exakter und ausdrucksstaerker als Prosa- beschreibungen, insofern man ihr maechtig ist. Nun ist es leider so, dass viele ihr nicht maechtig sind. Dabei geht es weniger um die Notation selbst, als um die Denkweise und die Klarheit, die ihr zugrunde liegen. (Ob ich ``12:4=3'' oder ``Zwoelf geteilt durch vier sind drei.'' schreibe macht wenig Un- terschied. Beides Mal ist es aber das gleiche Sachverstaendnis und der gleiche Denkprozess.) So wie die meisten Harfisten die Struktur ihres Instrumentes nicht in derartiger Klarheit, wie derzeit in der Wikipedia stehend, beschreiben koennten, so koennen im Informatikkontext Anwender gemeinhin das was sie in der Fachdomaene tun auch nicht strukturiert beschreiben. Einige scheitern schon daran, auch nur *linear* zu beschreiben was sie tun! Ohne die passende Denkweise koennen sie ihr Thema gar nicht strukturiert erfassen und somit auch nicht in der Weise darlegen. Die formale Notation, die man vielleicht in einer hoeheren Quellcodeschicht sehen koennte, muss von ihnen nicht erwartet werden. Die Realitaet ist jedoch, dass sie durch ihren Mangel an dafuer angemessenen Denkweisen auch keine Fachdomaenen- beschreibung anlegen koennen. Dies sollten besser die Informatik- er tun, weil diese wenigstens strukturiert denken koennen. (Koennten die Anwender strukturiert denken, so waere es fuer sich auch kein grosses Problem, die formale Notation und damit Pro- grammieren (zumindest in Hochsprachen) zu lernen.) Bei all dem Lob bezueglich der formalen Notation, des strukturi- erten Denkens und der Exaktheit, darf man nicht der Illusion ver- fallen, es gaebe nur genau eine (passende) Denk- und Sichtweise! Vielmehr muss man sich immer bewusst machen, dass es stets ver- schiedene Betrachtungsweisen gibt, die unterschiedliche Aspekte beleuchten. Die strukturiert-mathematische Betrachtung kann zwar manches aber nicht alles. Fuer ein umfassendes und damit angemessenes Bild muss man mehrere Perspektiven und Denkweisen einnehmen. Neben der physikalisch-technischen Beschreibung der Harfe in der Wikipedia haette man ebenso eine klangliche Beschreibung und Einordnung als die primaere ansehen koennen. Jede hat einen Wert und jede ist in gewisser Weise beschraenkt. Nur gemeinsam (mit noch weiteren Betrachtungswinkeln) schaffen sie ein vollstaen- diges Bild. Die Priorisierung der Betrachtungswinkel ist dabei willkuerlich. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke