2021-08-27 gesellschaftsanalyse Normalesser Missverhaeltnisse Als Freunde zu ihrer Hochzeit eingeladen haben, gab es auf der Antwortkarte die Essensauswahl: vegan, vegetarisch, normal. Im Gespraech haben sie mir beschrieben, wie schwer es ihnen gefallen sei, einen guten Begriff fuer die fleischhaltige Nahrung zu waehlen. Dabei sei nicht nur zu bedenken gewesen, was sie selbst passend gefunden haetten, sondern ebenso, was die Gaeste auch verstehen wuerden. Schliesslich seien sie, nach langen Diskus- sionen, zu dem zwar unschoenen aber dafuer zumindest einfachen Begriff ``normal'' zurueckgekehrt. Normal -- Fleisch zu essen ist durchaus die Norm in diesem Gesellschaftskontext und auch insgesamt in Deutschland und Mit- teleuropa. Ebenso ist es die Norm und Erwartung, dass es bei Hochzeiten Fleisch -- mehrerlei Art -- gibt. ... Die Hochzeit als etwas Besonderes und darum ein Fleischgericht als etwas Beson- deres? Oder ist fleischhaltiges Essen die Normalitaet? Ist Fleisch eine hoeherwertige Nahrung? Eine aussergewoehnliche scheint es ja nicht (mehr?) zu sein. Vielleicht ist es auch nur die einfacher zuzubereitende Nahrung. Eine Betrachtung der Dinge geht nur dann sinnvoll, wenn man sich von der eigenen Egoperspektive moeglichst weit loest. Zuerst muss man naemlich erkennen koennen was man vor sich sieht. Und man muss sehen lernen was man bislang nicht wahrgenommen hat. Was ist normal? -- Die Normalitaet sollte nicht irritieren, denke ich. Bloss *war* ich irritiert, als ich kuerzlich in einem Res- taurant essen war. Ich esse schon auch fleischhaltige Nahrungsmittel, dennoch ist es mir schwer gefallen, ein Gericht zu finden, auf das ich Lust gehabt haette. Erst Stunden spaeter ist mir klar geworden, warum nicht. Am naechsten Tag habe ich mir die Speisekarte nochmal mit einem anderen Blick angeschaut: Vor 59 Gerichten sind 2 (vermutlich) vegan, 5 sind vegetarisch und 52 mit Fisch oder Fleisch. Die tatsaechliche Situation ist aber noch schlimmer, denn gar alle Hauptgerichte sind mit Fisch oder Fleisch: 14 auf der Tageskarte und 29 auf der Hauptkarte. Uebrig bleiben 5 fleischlose Gerichte auf der Kinderkarte (nur bis 12 Jahre!), von denen die Portion Pommes (je nach verwendetem Fett) vegan ist. Und dann gibt es noch gerade mal zwei fleischlose ``Gerichte'' fuer Erwachsene: eine vegetarische Toma- tencremesuppe und ein (je nach Dressing) veganer kleiner (!) Salat! -- Haarstraeubend! Also Pommes und einen kleinen Salat fuer Veganer -- bon appetit! ... waehrend sich die Fisch- und Fleischesser in der Auswahl suhlen! Ja, natuerlich hatte dieses Restaurant einen Fokus auf Fisch, aber dennoch ist dieses Verhaeltnis und die selbst vegetarische Optionslosigkeit krass. Dagegen ist die Auswahl der Fleischger- ichte nicht eingeschraenkt, trotz des Fokus auf Fisch. Ein aehnliches, wenn auch nicht so ausgepraegtes Phaenomen gibt es bei den Getraenken: Neben Wasser immerhin 17 Saefte und Erfrischungsgetraenke. 8 Teesorten. 2 heisse Schokoladen. Dann 7 Kaffeesorten. Und schliesslich 11 Biersorten (2 davon alkoholfrei), 10 Weine, 7 warme Alkoholgetraenke und nicht zuletzt 27 Schnaepse. Im Gegensatz zu den Speisen hat man bei den Getraenken in allen Bereichen Auswahlmoeglichkeiten. Wenn ich fuenf verschiedene Saftschorle zur Auswahl habe, dann ist mir nicht wichtig, ob es zudem zehn Biersorten gibt. Wenn es fuenf ordentliche fleischlose Gerichte gegeben haette, dann waeren mir auch die 24 Fleischger- ichte egal gewesen. Nur durch das extreme Missverhaeltnis und mein Auswahlproblem ist das alles in mein Bewusstsein gerueckt. (Am Ende habe ich eine Portion Spaghetti Bolognese gegessen ... und damit meine bereits vorhandene Meinung nur gefestigt, dass mir eine vegane ``Bolognesesauce'' mit Sojaschnetzel viel besser schmeckt als eine mit Hackfleisch.) http://marmaro.de/apov/ markus schnalke