2021-07-01 the real world Handwerk und Kunst Ein zweistufiger Lernprozess Das eigene Verhalten, wenn man bei einem Thema nach und nach besser wird, nimmt keinen linearen Verlauf. Es ist gerade nicht so, dass man einfach das Gleiche macht, bloss immer besser. Im Gegenteil, man macht je nach Entwicklungsstand unterschiedliche Dinge, in unterschiedlicher Weise, mit unterschiedlicher Absicht. Vielleicht ist das ein Grund warum Profis nicht unbedingt gute Lehrmeister fuer Anfaenger sind: fuer sie sehen die Dinge anders aus, sie achten auf anderes und denken anders darueber. Anfaenger brauchen ein vereinfachtes Modell der Sache, sie muessen sich auf die Kernpunkte fokussieren und sie brauchen klare Regeln, die sie zu befolgen lernen muessen. Es ist egal, ob es sich dabei um's Textschreiben, um den Textsatz, um Discgolf, um's Programmieren, um die zwischenmenschliche Kommunikation oder um's Gitarrespielen handelt. Das Prinzip ist ueberall gleich. Dieser starre Ansatz zu Beginn ist noetig, um von der Komplexi- taet des Themas (die man in der Phase weder verarbeiten noch mit ihr umgehen kann) nicht erschlagen zu werden. Lernen ist ein langdauernder Prozess. Es braucht Zeit, um fuer das jeweilige Thema passend wahrnehmen, denken und ausfuehren zu koennen. Alleine das Wahrnehmen stellt schon eine grosse Herausforderung dar. Bewusst wird uns das dann, wenn man zum ersten Mal Kontakt mit einem neuen Themengebiet hat. Wenn man zum ersten Mal Quellcode sieht -- alles nur wilder Text. Oder ein sed-Programm -- alles nur kryptische Zeichen. Oder wenn man die Pflanzenarten einer Wiese bestimmen soll -- alles nur Gras. Oder Pferderassen unterscheiden soll -- klar, manche sind groesser, kleiner, dick- er, duenner, ... Oder wenn man Chinesen (oder andere der eigenen Lebenswelt ferne Menschen) als Individuen unterscheiden soll. Oder wenn man die Kommunikationsformen von Informatikern als Fachfremder verstehen soll. Usw. Anfangs scheitern wir daran, dass wir die Informationsmenge weder in die passenden Einheiten zerlegen koennen (Tokenizing), noch zwischen Signal und Noise unterscheiden koennen ... wir kommen also noch gar nicht zu dem Punkt wo wir die eigentliche In- haltsinformation, bzw. den wichtigen Anteil davon, inhaltlich bewerten koennten. Wir erkennen ihn gar nicht in der fuer uns gleichfoermig erscheinenden Informationsmenge. In dieser voelli- gen Unfaehigkeit sind starre Regeln der hilfreichste Weg. Wenn wir dank ihnen die Wahrnehmung geschafft haben (oder glau- ben, sie geschafft zu haben), dann muessen wir aber auch das passende Denken erlernen. Und ebenso das Ausfuehrenkoennen. Hier ist es ebenso sinnvoll, zuerst die starre Form zu lernen, weil diese sicherstellt, dass man auch tatsaechlich die passende Art lernt und sich nicht mit einer ganz anderen Weise durchmogelt. Diese Ebene ist das Handwerk. Das Handwerk hat etwas Starres, es schafft aber die noetige Grundlage fuer alles weitere. Hat man das Wahrnehmen, das Denken und das Ausfuehren erlernt, so ist man Handwerker. Um nun auch die Kunst zu beherrschen zu ler- nen ist jedoch ein ganz anderer Prozess noetig. Der Handwerker muss nochmal ganz neu anfangen und wieder neue Wahrnehmungsweisen, neue Denkweisen und neue Handlungsweisen ler- nen! Wenn man sich diesen grundlegenden Unterschied zwischen er- ster Phase (Handwerk) und zweiter Phase (Kunst) nicht bewusst macht oder sich nicht darauf einlaesst, dann wird man kein Meis- ter werden. Wo es in der ersten Phase von zentraler Bedeutung war, den Regeln zu entsprechen und sich der Ordnung anzupassen, gilt es nun ein differenzierteres Bild zu gewinnen. Kein Regelsatz kann immer angemessen sein, keine Ordnung ist immer sinnvoll. Es gibt viel zu viele Kombinationen, zu viele Zielkonflikte, als dass ein starres System alle beruecksichtigen koennte. Das starre System der ersten Phase hilft einem dabei die 80% sicher zu erreichen. Das ist wertvoll, in nicht zu unterschaetzender Weise, weil es miserable Ergebnisse zuverlaessig verhindert. 80% sind schon richtig gut. Wenn alle immer 80% abliefern wuerden waere ich gluecklich. Wenn man die 80% dann zuverlaessig beherrscht -- erst dann! -- kann man sich aufmachen auch auf 90% oder gar 95% zu kommen. Dafuer muessen die 80% aber sitzen. Der Gitarrespieler darf an dem Punkt nicht mehr ueber Griffe nachdenken muessen, der Pro- grammierer nicht mehr ueber Listen, Baeume, Pointer ... all das muss verinnerlicht sein, denn jetzt geht es um das Abwaegen von Varianten. Phase 2 bedeutet, die Unterschiede zwischen verschiedenen Varian- ten zu eroertern und im Gesamtkontext der jeweiligen Situation eine gute Entscheidung zu treffen. Voraussetzungen dafuer sind das Erkennen der relevanten Faktoren, die passenden Denkweisen, ein Repertoire an Alternativen vor dem geistigen Auge zu sehen und bereits Erfahrungen mit ihnen gemacht zu haben. Jetzt muss die Dominanz der starren Regeln ueberwunden werden. Was man in Phase 1 erst muehsam erlernt hat muss man nun ueberwinden. Zu diesem Zeitpunkt darf das sein, weil sich ihr Sinn der Person erschlossen hat und weil sie sie nun nur mit gutem Grund und in angemessener und in die Nachteile kompensierender Weise brechen wollen wird. Anfaenger sind dazu schlichtweg nicht in der Lage. All das was an Handwerk gelernt wurde muss nicht vergessen wer- den, es muss weiterhin automatisiert und sofort abrufbar sein, aber man muss die erlernte Akzeptanz seiner Dominanz (die anfangs wichtig war) ueberwinden und nun in Frage stellen ... man muss die Regeln neu bewerten. Die Herausforderung ist nun nicht mehr wahrnehmen, denken und ausfuehren zu koennen -- all das ist in der Phase schon verinnerlicht -- jetzt geht es darum abzuwaegen, blitzschnell Alternativen gegenueberzustellen, ein ``Gefuehl'' zu haben und dieses auch begruenden zu koennen. Dies ist die Ebene des Kuenstlers und Meisters -- wenn man so will. Sie erfordert als Voraussetzung aber die Vervollkommnung des Handwerks. Abkuerzungen funktionieren nicht. Das ist kein linearer Prozess, sondern es sind zwei sehr unter- schiedliche Phasen, die aufeinander aufbauen. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke