2021-04-18 the real world Fortschritt ohne Verbesserung Ohne Sinn und Verstand Ich habe mal gedacht, dass der Fortschritt eine umfassende Ver- besserung der Situation darstellen wuerde. Dem ist aber nicht so. Gerade in der Informatik erinnert der Fortschritt stark an ein kindliches Ausprobieren aller Moeglichkeiten. Es wird ohne Sinn und Verstand gehandelt. Der Blick reicht weder zehn Jahre in der Vergangenheit noch zehn Jahre in die Zukunft. Es sind tunnelar- tige Bestrebungen, die sich nur auf Einzelaspekte fokussieren. Die Beschleunigung nimmt weiter zu, gleichermassen muss -- rein logisch -- die Qualitaet abnehmen. Nun habe ich mich halt doch mal wieder mit dem Notebook befasst, nachdem die WLAN-Karte meines X41 immer mehr Aussetzer hat. ich war durchaus bereit, mich neu auf das X270 einzulassen. Leider macht sich erneut Ernuechterung breit. Die Verbesserungen von zehn Jahren Entwicklungsfortschritt sind einseitig und insgesamt gering. (Das X41 ist von 2006, das X270 von 2016.) Hier nun worin das X270 besser ist. Das ist der positive Fortschritt, der eigentlich 90% der Unterschiede ausmachen sollte. - Rechenleistung: Wenig ueberraschend ist das Geraet leis- tungsstaerker. Der Unterschied ist nicht eklatant und fuer meine Anwendungsszenarien eigentlich auch unwichtig, aber hier gibt es einen erwarteten und insgesamt auch sinnvollen Fortschritt. - Akkulaufzeit: Hier liegt der eindeutig groesste Forschritt. Das X41 schafft mit einem 4400Ah-Akku (mittleres Modell) gerade mal 4h, waehrend das X270 schon mit dem kleinsten Akku (1600Ah) 5h laeuft. Der grosse 6200Ah-Akku soll sogar 16h Arbeitszeit ermoe- glichen. Das sind andere Groessenordnungen! (Und das obwohl das Display dabei deutlich heller ist.) - Display-Helligkeit: Die Helligkeit des Displays ist insgesamt hoeher. Auch hat es einen besseren Kontrast. Das ist ein willkom- mener Forschritt. - Schnittstellen: Was meine eigene Hardwareumgebung betrifft ist mir ein VGA-Ausgang noch immer nuetzlicher als ein HDMI-Ausgang, aber die Welt da draussen wandelt sich, so dass die Kompatibili- taet wichtig ist. Diese ist aber nicht viel Verbesserung an sich. Es sind nun halt andere Schrittstellen, nicht aber zwangslaeufig bessere oder mehr. Nun die Rueckschritte, die in den zehn Jahren Entwicklung pas- siert sind: - Tastatur: Die Tastatur ist so viel schlechter! Sie ist gar nicht mehr fuer's Tippen optimiert. Die Beleuchtung der Tasten von unten ist eine Verbesserung, aber die Haptik und die Tastenanordnung sind deutlich schlechter geworden. Frueher hatten die Tasten eine Art Vulkan-Profil: Schraege Seiten und oben eine sanfte Kratervertiefung mit klar definiertem Kraterrand. Durch die schraegen Seiten sind die einzelnen Krater weit von einander entfernt, der Kraterrand vermittelt den Fingerkuppen wo die Tasten(mitten) sind. Moderne Tasten haben gerade Seiten, kaum noch Kratervertiefungen und folglich auch undefinierte Krater- raender. Durch die geraden Seiten reduzieren sich die gefuehlten Tastenabstaende und durch die kaum noch vorhandenen Kraterraender lassen sich Tastenmitten nicht mehr erfuehlen. Auf der Tastatur des X270 sind die Tasten zudem in y-Richtung gestaucht worden. Verschiedene Tasten sind ganz weggefallen oder nur noch ueber Modifier zugaenglich. Darunter ``Insert'' (was ich fuer Copy'n'Paste verwende) und ``Pause'' (was ich als Compose-Key verwende). Vor allem aber sind die dedizierten Lautstaerketasten in Fn-Belegungen umgewandelt worden. Die nuetzlichen Vor- /Zurueck-Tasten fuer die Browser-History gibt es gar nicht mehr. Und nicht zuletzt sind die einstmals sinnvoll nebeneinander platzierten Home/End + PgUp/PgDn nun ueber die Tastatur ver- streut. Alles Aenderungen, die die Tastaturbedienung ver- schlechtert haben. -- Warum dieser Verfall? Die Tastatur und das Tippen koennen eigentlich nicht mehr als wichtig erachtet werden, wenn man dort einen derartig starken Verfall zulaesst. - Touchpad: Manche moegen damit etwas anfangen koennen, ich nicht. Es frisst massig Platz zulasten aller anderer Elemente. Alle Defizite bei Tastatur und Co. sind Folgen des Touchpads (das es beim X41 nicht gibt): Die Tasten sind gedrungener, die Tastenanzahl ist geringer, die dedizierten Zusatztasten sind weg- gefallen und auch auch die Maustasten fuer den Trackpoint (der eh die bessere Maus ist) sind nach oben verschoben worden. Ver- schlimmert wird die ganze Situation noch durch das Widescreenfor- mat, wegen dem eh schon weniger y-Platz da ist. Aus dem rundum stimmigen Eingabekonzept des X41 ist zehn Jahre spaeter ein nur noch mittelmaessiger Kompromiss geworden. - Trackpoint: Der Knubbel ist unveraendert, aber seine Tasten ha- ben ihre Fuehlbarkeit verloren. Was einstmals (nur zehn Jahre frueher!) problemlos mit der Aussenkante des Daumens erfuehlbar war, geht heute unter in einem optisch wie haptischen Gleich- und-gleich. Was damals eine Perfektion von haptischer Bedien- barkeit war ist heute haptisch unbrauchbar. Alle Funktion ist zu- gunsten der Optik geopfert worden. -- Fortschritt? -- Desweiteren hat auch hier das Touchpad seinen Schaden hinterlassen, hat es die Trackpoint-Tasten doch nach oben geschoben. Dadurch sind sie jetzt nicht mehr dort wo der Daumen normalerweise liegt wenn man die zehn Finger auf der Grundreihe hat und den Zeigefinger auf den Knubbel legt. Jetzt muss man die Hand- und Armhaltung umstaendlich veraendern, um die Tasten bedienen zu koennen. Eine entspannte Bedienung ist damit nicht mehr moeglich. Dank nicht mehr vorhandener Erfuehlbarkeit der Tasten mit der Daumenaussen- seite wird man zusaetzlich gezwungen die Hand so zu posi- tionieren, dass man die Tasten auch wirklich trifft ... oder man nimmt gleich den Zeigefinger, was das ganze (vormals perfekte) Bedienkonzept ad absurdum fuehrt. -- Ein massiver Rueckschritt! - Display: Ein helleres Display ist gut, alles andere an ihm ist aber schlechter als zuvor. Das Widescreenformat ist in fast allen Faellen nachteilig (und eindeutig nur die Folge der wirtschaftli- chen Interessen der Hardwarehersteller, die damit weniger Flaeche bei gleicher Bildschirmdiagonale finanzieren muessen). Die nun horizontal fast doppelt so hohe Aufloesung (1920px vs. 1024px) erscheint mir wenig nuetzlich zu sein. Wer kann so winzige Pixel denn ueberhaupt noch sehen (es ist ja nur ein 12,5"-Display)? ich kann damit auch nicht mehr Informationen anzeigen, weil diese nicht von der Pixelanzahl sondern von der dargestellten Groesse abhaengen. Ich will, dass die Schrift bei einem gewissen Bildschirmabstand soundso viele Millimeter gross ist. Ich will das Textzeilen 80 Zeichen lang sind und weitere 8 Zeichen fuer die Zeilennummern im vi zur Verfuegung stehen (weil laengere Textzeilen die Lesbarkeit deutlich abnimmt). Wozu brauche ich selbst bei Filmen diese Monsteraufloesungen, zumal auf diesem kleinen Display? Das kostest alles nur Rechenpower und Speicher- platz, ohne relevante Vorteile zu bieten. Wo ist dabei die Sinnhaftigkeit? Wo die umfassende Bewertung von ``Ver- besserungen''? - Bildschirmbefestigung: Nun hat der Widescreen eh schon eine niedrige Hoehe, und der Hals des Users wird darum staerker gek- nickt. Doch wird der Notebookdeckel nicht weiterhin oben auf dem Unterteil befestigt, so dass beim Aufklappen seine ganze Hoehe oberhalb des Unterteils liegt, nein, das Scharnier ist andersrum befestigt, so dass der Deckel nun hinten runter schwenkt. Und wieder verliert man einen Zentimeter an Hoehe ... und zudem die Moeglichkeit die Hinterseite des Gehaeuses zu nutzen. Die Hinter- seite wird nur als Schwenkplatz fuer das Display reserviert. Wenn man dort schon keine Anschluesse hinmacht (wie auch beim X41 nicht), so koennte man den Platz dort als Erweiterungsraum fuer groessere Akkus nutzen. Wenn das Notebook nicht gerade auf einer freien Flaeche steht, fehlt auch manchmal der Platz, um das Display nach hinten schwenken zu koennen. Wenn ich es auf den Oberschenkeln habe, klemme ich beim Aufklappen immer wieder etwas ein. Und noch ein weiterer Punkt dazu: Da der Deckel zugeklappt nun ueberall gleich aussieht, ist nicht mehr auf den ersten Blick klar wie rum man ihn aufklappen muss. Es braucht einen zweiten Blick und einen Gedanken, wo frueher durch die Sichtbarkeit der Scharniere unmittelbar klar war wie rum man oeffnen muss. Das X41 habe ich in all den Jahren kein einziges Mal falsch rum aufzuk- lappen versucht, weil optisch offensichtlich war was vorne ist. Das X270 versuche ich staendig falsch rum aufzuklappen, nicht weil ich es nicht gewohnt bin, sondern weil im optischen Gleich- und-gleich die Hinweise fehlen, die mir sagen was vorne und was hinten ist. Alles in allem ist das neue Deckelscharnier eine Aen- derung, die nur Nachteile hat, vor allem konkrete Prax- isnachteile, die zu Minifrustrationen im taeglichen Betrieb fuehren, ... und ich frage mich noch immer was eigentlich der Grund fuer das andere Deckescharnier war, weil mir einfach keiner einfaellt, ausser einem rein optischen, der aber so absurd erscheint gegenueber all den praktischen Nachteilen. - Nebenbei ist sowohl die maximale Lautsprecherlautstaerke ger- inger als beim X41, als auch der WLAN-Empfang, trotz neuerem WLAN-Modul, schlechter. Es ist kaum fassbar wie wenig Verbesserung die zehn Jahre Fortschritt dem neuen Geraet gebracht haben. Ja, die Frage ist sogar, ob insgesamt ueberhaupt eine Verbesserung vorliegt! Alle Verbesserungen umfassen sehr wenige quantitive (!) Bereiche, ueber die man ueber kurz oder lang gezwungen ist auf neue Hardware zu wechseln. Dagegen haben die qualitativen (!) Merkmale deutliche Verschlechterungen erfahren. Auch das Gesamtkonzept ist zugusten von Einzelaspekten vernachlaessigt worden. Frueher haette ich mir nicht vorstellen koennen, dass das als Fortschritt angesehen werden koennte. Leider sieht es aber genau so aus ... nicht nur beim Notebook. Das ganze Web schreitet auch in der Weise fort: neue Funktionen in ein ein paar wenigen Bereichen, aber insgesamt gesehen eine sinkende Qualitaet. Alles abseits des Normalfalls wird sowieso ignoriert. Kompatibilitaet ist irrelevant geworden. Gerade in einem immer schneller sich veraendernden Umfeld wird immer weniger auf die Unterstuetzung der kuerzlich noch aktuellen Browserversionen geachtet. Widgets werden neu erfunden, in aus Usability-Sicht schlechterer Form -- sie sehen nur netter aus, bedienen sich aber schlechter ... was aber eigentlich ihre Hauptfunktion waere. Und auch URLs werden nicht persistent gehalten (was technisch und organisatorisch problemlos moeglich waere), sondern man laesst sie nach Lust und Laune wegbrechen, fuehrt dann aber separat dazu ``persistente URLs'' als Feature ein. Das alles widert mich sowas von an! Es ist Ausdruck einer Denkweise und Weltsicht, die immer mehr um sich greift. Wenn man mal eine perfekte Form erreicht hat, dann muss sie wieder schlechter gemacht werden, bloss, dass man wieder etwas Neues hat, das man verkaufen kann. Langfristigkeit hat keine Relevanz. Qualitaet hat keine Relevanz. Dieser Fortschritt ist keine schrittweise Verbesserung, sondern eine schrittweise Reduzierung von Qualitaetsmerkmalen zugunsten weniger, plakativer und oft nur scheinbar wichtiger Quanti- taetsmerkmale. Noch immer kenne ich kein Notebook, das in Summe besser waere als mein X41. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke