2020-12-27 the real world Buecher 2020 Was ich gelesen habe Es ist Ende Dezember, ich sitze auf dem Sofa und richte mich fuer eine laengere Schreibsession ein. Neben mir: mehrere Stapel mit Buechern -- all die Seiten, die dieses Jahr, Wort fuer Wort, an meinen Augen vorbeigezogen sind. Die Befuerchtung, dass ich 2020 weniger lesen wuerde, war unbegruendet. Es ist eher mehr gewesen. Sieht ganz danach aus, wie wenn ich dieses Jahr einen Meter Re- galplatz geschafft haette ... was aber natuerlich ein wenig aus- sagekraeftiges und sehr relatives Mass ist: Manche Buecher mit 500 Seiten sind so dick wie andere mit 1200 Seiten. Manche Buech- er sind so kompakt gesetzt, dass sie pro Seite doppelt so viel Text enthalten wie andere ... und vom Gehalt des Inhalts ganz zu schweigen! Aber wir Menschen brauchen auch Sichtbares oder zu- mindest Vergleichbares, um uns eine Vorstellung machen zu koen- nen. Jetzt aber los mit den Buechern! 1) Stephen King: Die Leiche [de] Wie letztes Jahr habe ich auch in 2020 mit Stephen King begonnen. Dieses Mal die dritte Geschichte des Sammelbandes ``Fruehling, Sommer, Herbst und Tod''. Die Stelle mit den Blutegeln ist ein gutes Beispiel von Kings Faehigkeit, einen packen und in die Geschichte ziehen zu koennen. Seine im Hintergrund verweilende Sprache und seine Direktheit sind die Hilfsmittel dabei. 2) Stephen King: The Stand [de] Den Rest des Januars bin ich im Urlaub endlich (!) dieses Werk angegangen. So lange hat es schon warten muessen. Immer wieder habe ich es vor mir her geschoben. Jetzt war der richtige Zeit- punkt gekommen. Gewissermassen war es auch das inhaltlich passende Buch fuer das was kurz danach auf der Welt passiert ist ... In verschiedener Hinsicht war dieses Buch dieses Jahr ak- tuell. Unter den richtigen -- oder falschen -- Umstaenden konnte ein feiger Wichtigtuer ein sehr gefaehrlicher Mann sein. [0] Im Kontext von Kings Gesamtwerk ist dieses Buch besonders in- teressant, da es bereits von 1978 stammt und rueckblickend wie ein Grossentwurf seiner zukuenftigen Themen und Charaktere wirkt. Den Harold gibt es immer wieder, auch den Bateman, usw. An Stephen King mag ich, dass neben und unter dem Horror (fuer den er bei den meisten Menschen, in mir zu eindimensionaler Weise, steht), eine grosse gesellschaftliche, politische und men- schliche Ebene zu finden ist. Der Horror kann auch als sein Stil- mittel gesehen werden und nicht nur als eigentlicher Inhalt, denn daneben gibt es noch so viel mehr bei ihm! (Das ist wie die Frage, ob Rockmusik der Inhalt oder ein Stilmittel ist. Pauschal laesst sie sich wohl nicht beantworten. Es kommt darauf an, wie man sie einsetzt. Meist wird sie wohl beides zu einem Teil sein.) Der Januar war genau die richtige Zeit fuer dieses Buch. 3) Ralf König: Der bewegte Mann [de] Anfang Februar habe ich mal wieder diesen Comic gelesen. Er ist einfach so gut! Immer wieder bin ich davon begeistert. 4) Federico Jeanmaire: Richtig hohe Absaetze [de] Gekoedert haben mich der Titel und das Coverbild. Die Geschichte im Innern war aber inhaltlich wertvoll. Dies war wohl mein erster literarischer Kontakt zur chinesischen Kultur. Sprachlich enthaelt das Buch -- wie auch das Chinesische -- keine Zeitfor- men. Dass die Leute sich mit den Zeitformen nicht besser verstaendigen koennen als ohne sie, ist offensichtlich. Oder sich groessere Achtung entgegenbringen. Oder sich mehr oder besser lieb haben. Und wenn sie dazu nicht taugen, wozu taugen sie dann? [1] Das Buch macht verschiedene Kulturunterschiede und den Raum dazwischen sichtbar. Ich bin froh, es gelesen zu haben. 5) Jorge Zepeda Patterson: Milena [de] Ueber das Amnesty Journal bin ich auf dieses Buch aufmerksam geworden. Ich weiss auch nicht, was ich sagen soll ... ausser: Was fuer ein Buch! Prostitution, Menschenhandel, aber in gleicher Weise auch Politik und zwischenmenschliche Beziehungen ver- schiedenster Art. Es ist unmoeglich, alle Uebel der Welt zu bekaempfen, aber wir sind verpflichtet, etwas zu tun, wenn sie in unser Leben eindringen. Wir koennen doch nicht einfach die Arme verschraenken, wenn vor unseren Augen schreck- liche Dinge passieren. [2] Das Buch ist eine tolle Mischung aus sehr vielem. Es gibt wenig Grund es nicht zu lesen. :-) 6) Stanisław Lem: Die Untersuchung [de] Nach ``Solaris'' wollte ich nochmal etwas von ihm lesen. Ich habe eher zufaellig dieses Werk ausgewaehlt. Man kann dieses Buch schnell wieder vergessen (wollen), weil es so seltsam und auch ungewohnt ist, finde ich. Oft genug wird man es weglegen wollen, weil es einen irritiert. Lem stellt darin die Logik der Welt in Frage. Das ist ein Angriff auf die eigene Rationalitaet. Und zu- gleich ist er in einer Weinberg'schen Weise klar und analysierend: Am Ort des Verbrechens kann man oft feststellen, welche Tatsache mit ihm in Verbindung steht und welche nicht. So haben zum Beispiel die Formen von Blutflecken in der Naehe der Leiche eines Ermordeten eine Verbindung zu dem Verbrechen und koennen viel ueber seinen Verlauf aussagen. Hingegen kann man die Tasache, ob am Mordtag Kumuluswolken oder Zirrostraten ueber dem Haus dahingezogen, oder aber, ob die Telephondraehte vor dem Haus aus Aluminium oder Kupfer waren, als unwesentlich ausser acht lassen. Was unsere Serie anbelangt, so ist es a priori unmoeglich, ueberhaupt festzustellen, welche Begleitumstaende in Beziehung zu dem Verbrechen stehen und welche nicht. [3] Und an Saetzen wie diesen kann man sich, im Bezug auf sein eigenes Leben und Handeln, lange abarbeiten: Die Existenz eines Taeters, ob gefasst oder nicht, ist fuer Sie keine Frage von Erfolg oder Niederlage, son- dern von Sinn oder Sinnlosigkeit Ihres Handelns. Und weil dieser Mensch fuer Sie Frieden, Erloesung, Erret- tung bedeutet, werden Sie ihn auf irgendeine Weise fassen, werden Sie diesen ausgemachten Schurken erwischen, selbst wenn er gar nicht existieren sollte. [4] Einfach ist Lem nicht, aber in all den Irritationen liegt viel Wertvolles versteckt. 7) Ian Rankin: The Complaints [en] Das letzte Buch im Februar. Ich hab es bei einem Buechereiflohmarkt gefunden. Eine gute Geschichte. Darin auch diese Unterhaltung: `My brother's partner ... I don't get on too well with him, either.' `Him?' `My brother's gay.' `I didn't know.' Breck looked at Fox. `No reason why you should.' [5] 8) Heleen van der Laan: Wo bleibt das Licht [de] Dieses Buch habe ich Marius zu verdanken, der es im Buecherregal seiner Mutter gefunden hat. Ich wuerde gerne mehr ueber die Hintergruende des Buches wissen, vor allem in welchem Alter sie das Buch geschrieben hat. Da ist so viel Reife und Reflexion dabei. Auf das Buch bin ich an anderer Stelle schon eingegangen. [6] 9) Olga Grjasnowa: Die juristische Unschaerfe einer Ehe [de] Was fuer ein Titel! Vom Backcover: Man braucht nicht auf die Midlife-Crisis zu warten, man kann sein Leben auch schon mit Mitte Zwanzig wunderbar gegen die Wand fahren. Wie haette ich so ein Buch stehen lassen koennen, als ich mal wieder in der Dante Connection in Berlin war? Es geht um Beziehungen, Wechsel zwischen Kulturen, Welten abseits der Heteronormativitaet, Politik, Selbstfindung ... Aber fuer Altay und Leyla bestand in diesem System zum ersten Mal ein Zusammenhang zwischen Glueck und Homosexualitaet. Beide waren mit dem Horroszenario eines homosexuellen Lebens aufgewachsen -- Coming-out, Diskriminierung, Krankheit, Tod. In Berlin kamen Liebe, Partnerschaft und Begehren hinzu. Zudem war Berlin eine Stadt des Exils, alle kamen hierher -- die von der deutschen Peripherie Ver- schmaehten, die Pariser, die sich ihre Stadt nicht mehr leisten konnten, die Israelis, die ihren Staat nicht mehr ertrugen, Italiener, Skandinavier, Griechen, Spanier, Amerikaner -- nur Arme, Fluechtlinge und Asylanten sollten Europa nicht betreten. [7] 10) J. Christ: TerminalBuch vi [de] Das Buch ist von 1989. Wirklich viel Neues habe ich darin nicht gefunden. Das habe ich aber auch nicht erwartet. Ich war eher auf ein paar bislang unbesuchte Ecken und Winkel gespannt. Von denen gab es allerdings nicht viele. Fast alles, was an Editierbefehlen vorgestellt worden ist, kenne und nutze ich. Was ich kaum nutze sind Mappings, Abkuerzungen und Makros, sie sind mir jedoch nicht unbekannt. Ex-Befehle gibt es eine Reihe, die ich nie verwende, weil ich das typischerweise im vi-Modus mache ... oder halt in ed. Und bei den Optionen habe ich Luecken, (weil ich nur `nu' und `wm' regelmaessig verwende, selten mal `ic' und `list'). Wirklich hilfreich war es nicht, das Buch zu lesen. Es war auch mehr so, dass ich nach und nach die ungelesenen Computerbuecher in meinem Regal lesen will. Dieses hatte keinen grossen Anspruch an den Leser, das war mir zu der Zeit ganz recht. 11) Eduard Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmaennlein [de] Als Jugendlicher bin ich manchmal donnerstags in der Mittagspause mit meinem Papa in die (inzwischen nicht mehr existierende) Piz- zeria Hutzelmaennle in Ulm gegangen. Seit dieser Zeit hat mich das Maerchen schon interessiert. Auch jeder Besuch des Blautopfes hat mich wieder daran erinnert. Jetzt ist das erledigt. Es war mehr der Vollstaendigkeit halber. Gut es zu kennen; an ver- schiedenen Stellen war es nett; insgesamt aber nicht vom Hocker reissend. 12) Mary Shelley: Frankenstein [de] Zum Ende des Maerz diesen Klassiker. Schon lange wollte ich ihn lesen. Das Werk hat zurecht seine Bedeutung. Es ist so modern und zeitlos ... unglaublich. Es hat mich vollkommen umgehauen! Man sollte dabei nicht vergessen, dass es das Erstlingswerk der damals erst 19-jaehrigen Mary Shelley war. Wie kann man in dem Alter und (als Frau) im Jahr 1818 so etwas schreiben!? Wenn ich mich umsah, gab es weit und breit niemanden, der mir aehnelte. War ich also ein Monster, ein Schand- fleck auf Erden, vor dem alle Menschen flohen und der von allen verstossen wird? Ich kann dir den Schmerz nicht beschreiben, den diese Ueberlegungen mir bereiteten. Ich versuchte mich davon abzulenken, doch der Kummer vergroesserte sich mit dem Wissen. Oh, wenn ich nur fuer immer in meinem alten Wald geblieben waere, ahnungslos und nichts fuehlend ausser Hunger, Durst und Hitze! Von welch seltsamer Natur ist das Wissen! Es heftet sich an den Verstand, wenn es ihn einem gepackt hat, wie die Flechte an den Felsen. Manchmal wuenschte ich mir, alle Gedanken und Gefuehle abzuschuetteln. Aber ich lernte, dass es nur einen Weg gab, dem Schmerz zu entkommen, und dies war der Tod -- ein Zustand, den ich fuerchtete, ohne ihn zu verstehen. [8] ... aber vielleicht war ihr das gerade deshalb moeglich, *weil* sie eine Frau war, 1818. (Nicht wegen ihres Geschlechts, sondern weil sie dadurch in verschiedener Weise gesellschaftlich aus- geschlossen war.) In den Tagen, als ich das Buch gelesen habe, habe ich folgende Worte an eine Freundin geschrieben: Das Buch hat eine so gute Komposition, die ineinander greift und sowohl fuer die damalige Zeit neuartig als auch tief ausgearbeitet ist. Es geht kaum um das, fuer was Frankenstein heute in der Populaerkultur steht: seine Kreatur (der Begriff ``Monster'' ist gar nicht recht zutreffend). Der Inhalt des Buches ist -- bis dort wo ich derzeit bin -- eine philosophische Betra- chtung der Verantwortung, die man fuer seine Taten hat. Zum einen fuer seine Nachkommen (die Kreatur sieht in Frankenstein seinen Vater), als auch fuer die wissen- schaftlichen Schoepfungen (blinder Forscherdrang und dann angewiderte Abwendung vom Ergebnis). Im kommenden Teil wird die Kreatur zunehmend seine Sicht auf die Dinge beschreiben: Ihre aeusserliche An- dersartigkeit, die zur Ausgrenzung fuehrt, zu quaelender Einsamkeit, dabei will sie auch nur geliebt werden und die Schoenheit des Lebens geniessen. Sie braucht dazu eine Elternfigur, die ihr zeigt wie das geht ... in erster Linie, indem sie ihr Liebe schenkt. Ein unglaubliches Buch! Ich freue mich schon sehr darauf, in den naechsten Tagen diese warme, unschuldige (kindliche) Seite der Kreatur entdecken zu duerfen ... wie sie im Wald in der Sonne sitzt und den Voegeln zuhoert, waehrend sie das Glueck der Menschen beobachtet, ohne sich ihnen naehern zu koennen, weil sie sonst eben jenes Gluecksgefuehl zerstoeren wuerde und ihr ihre Andersartigkeit und die Ausgrenzung nur staerker bewusst werden wuerden. (So viel Anteilnahme, die ich dabei spuere ...) ``Die Schatzinsel'' (1881) -- ein wunderbares Buch -- ist nichts gegen diese Groesse! Auch ``Robinson Crusoe'' (1719) kann ``Frankenstein'' nicht gleich kommen. (Sie beide sind nur das, was ihr Bild in der Populaerkultur auch widerspiegelt. Franken- stein ist aber so viel mehr und so viel tiefer!) Mary Shelley hat ein Meisterwerk geschaffen! 13) Carolin Emcke: Ja heisst ja und ... [de] Anfang April habe ich dieses Buch gelesen, das ich im Roten Buchladen in Goettingen entdeckt habe. Es wird das, was jemand einem antun kann, beschwiegen -- anstatt die Tat zu unterdruecken, wird das Reden darueber unterdrueckt. So wird nicht die verbrecherische Handlung tabuisiert, sondern das Sprechen. Von Anfang an. So unterwandert die Erwartung nicht der, der Gewalt ausuebt, sondern jene, die davon erzaehlen wollen. Die sprachliche Ver- draengung verschiebt die Last der Rechtfertigung. [9] An vielen Stellen finde ich mich und mein Empfinden wieder. Ewig ausserhalb. Ohne dass sich dieses Ausserhalb falsch anfuehlte. [10] 14) Joy Fielding: Lauf, Jane, lauf! [de] Das Buch hatte ich schon ein paar Jahre im Blick und dann ein Jahr zuhause bevor ich es gelesen habe. Es hat mich nicht enttaeuscht. ``Moechtest du wirklich, dass deine Freunde dich so sehen?'' ``Wozu sind Freunde da?'' entgegnete sie heftig. [11] Auch ein Buch ueber die Notwendigkeit von Augenhoehe. 15) Stephen King: Atemtechnik [de] ``Dr. McCarron, wie lange wird es noch dauern, bis es auffaellt, dass ich schwanger bin?'' ``Bis August, wuerde ich sagen, vielleicht sogar Sep- tember, wenn Sie nicht zu enge Kleidung tragen.'' ``Danke.'' Sie griff nach ihrer Tasche, stand aber nicht gleich auf. Ich nahm an, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte und nicht wusste, wo oder wie sie an- fangen sollte. ``Sie sind berufstaetig, nehme ich an?'' Sie nickte. ``Ja, ich arbeite.'' ``Darf ich fragen, wo? Wenn Sie nicht darueber ...'' Sie lachte -- ein sproedes, freundliches Lachen, das mit ihrem Kichern von vorhin so viel Aehnlichkeit hatte wie die Nacht mit dem Tage. ``In einem Warenhaus. Wo sonst soll eine unverheiratete Frau in dieser Stadt ar- beiten? Ich verkaufe Parfuem an fette Damen, die sich ihr Haar selbst waschen und mit winzigen Ringel- loeckchen auf dem Kopf herumlaufen.'' ``Wie lange wollen Sie das noch machen?'' ``Bis mein Zustand bekannt wird. Ich nehme an, dass man mir dann kuendigen wird, damit nicht eine der fetten Damen Anstoss nimmt. Der Schock, wenn sie feststellen muesste, von einer unverheirateten schwangeren Frau bedient zu werden, koennte ihr Harr glaetten.'' [12] 16) John Ousterhout: Tcl and the Tk Toolkit [en] Dann habe ich erneut den ersten Teil (den zu Tcl selbst) in diesem Buch gelesen, weil ich in der Zeit mit Tcl ein paar kleine Spiele programmiert habe. Tcl fasziniert mich immer wieder ... weniger in seiner prak- tischen Anwendbarkeit als vielmehr in seinem Sprachdesign. Das kommt mir immer wieder so revolutionaer klar vor ... ein bisschen wie das fruehe Unix und seine Shell im Umfeld der damaligen Be- triebssysteme gewirkt haben muss. Vielleicht ist keine Program- miersprache mehr unixartig als Tcl. 17) Lann Hornscheidt: Kapitalismus entlieben [de] Dieses Buch verdanke ich Almut. Es hat mich in ein nochmal weiter fortgeschrittenes Denken geworfen. Ich bin froh, dass ich erst diesen (eigentlich eher ``hinteren'') Teil des Doppelwerkes gelesen habe, da er sprachlich weniger ungewohnt war. Ich konnte darin eher von mir bekannten Denkkonzepten ausgehen, die dann aber auf andere Weise beleuchtet und verknuepft worden sind. Es ist eine Analyse der kapitalistischen Vereinnahmung und Defini- tion der Liebe in unserer Gesellschaft. Liebe ist in diesem kapitalistischen System eine gegen- seitige Dienstleistung, ein Eigentumsverhaeltnis, und nicht eine Haltung. Und weiter: Als Haltung wuerde Lieben dazu fuehren, dass Menschen versuchen wuerden, alle fiktiven und wirklichen Mauern und Grenzen abzureissen, um Verbindungen zuzulassen. Um durchlaessig zu werden. Um sich, ihre Verbindung zu Welt und anderen spueren zu koennen. [13] (Zum anderen Teil des Buches im Juni.) 18) William Finnegan: Barbarentage [de] Den Abschluss des April bildete diese Autobiographie. Fuer's Surfen/Wellenreiten hatte ich schon laenger ein Interesse, noch mehr seit ich mich mit der Entstehung und den Hintergruenden des Longboardens beschaeftigt habe. Die Schlichtheit der optischen Erscheinung des Buches tat (wie so oft bei mir) den Rest. Beim Lesen dachte ich immer wieder: Wie kann es bloss sein, dass es so verdammt gute Buecher gibt?! Wer da keine Begeisterung fuer's Surfen und fuer ein solch weltenbummlerisches Leben entwickelt! Und doch ebenso, mit zunehmendem Alter, gleicher- massen die steigende Erfahrung und die koerperliche Gebrechli- chkeit ... der Drang, dennoch immer wieder erneut auf die per- fekte Welle zu warten, die Entbehrungen, die Erschoepfung und die vielen Male, in denen man dem Tod ein weiteres Mal entkommen ist ... So ein gutes Buch! 19) Yasmina Reza: Babylon [de] Ich weiss nicht ... es war nicht mein Buch. Keine Ahnung. Ich weiss auch schon nicht mehr, um was es eigentlich ging. Aber immerhin diese treffende Analyse habe ich mir angestrichen: Als ich klein war, wurde ich huebschgemacht. Im Natur- zustand war ich es also nicht, so viel verstand ich. [14] Ich habe das noch nie verstanden! 20) Stephen King: Die Augen des Drachen [de] Das zweite Buch im Mai war wieder von Stephen King. Diesmal etwas, das in erster Linie ein Maerchen ist. Wie so oft transpor- tiert Stephen King bedeutende Aussagen am Rande: Sie sagte zu ihrer Mutter: ``Ich war noch niemals verheiratet, und ich weiss nicht, ob es mir gefallen wird.'' [15] Diesen Gedanken sollte jede Tochter (und jeder Sohn!) haben. -- Nicht, ob es *der* Richtige ist, sondern ob es *das* Richtige ist! Und in dieser Hinsicht ist die Vorstellung einer Ehe auf Lebenszeit einfach absurd. 21) Will McCallum: Wie wir Plastik vermeiden [de] Ein Buch zu einem wichtigen Thema. 22) Karl May: Winnetou 1 [de] Ich weiss nicht mehr, wie ich Anfang Juni darauf gekommen bin, Karl May zu lesen. Wahrscheinlich habe ich eine Dokumentation ueber sein Leben gesehen, oder ich habe wieder angefangen meine Hoerspiele zu hoeren. Jedenfalls habe ich als Kind und Jugendlicher nie eines der Buecher gelesen. Ich kenne so gut wie alle Filme und ich habe die Hoerspiele, die ich auf LP habe, un- zaehlige Male gehoert, aber bei den Buechern habe ich, trotzdem ich welche besitze, nur zweimal einen Anfang gemacht, der beide Male innerhalb kurzer Zeit gescheitert ist. Jetzt aber habe ich dann doch angefangen zu lesen ... und habe darin -- wie fast im- mer -- mehr Reichtum gefunden als in den Filmen und Hoerspielen transportiert werden kann. Oder sagen wir, einen anderen Reichtum. Interessant finde ich Karl Mays fortschrittlicher Gerechtig- keitssinn, gerade auch vor dem Hintergrund seines eigenen Le- benslaufs. Wollten wir unsre Gesetze gegen euch anwenden, so muessten wir euch alle toeten. Doch wir wuenschen nur, dass eure Gesetze auch fuer uns gelten sollen. Tun sie das? Nein! Eure Gesetze haben zwei Gesichter, und die dreht ihr uns zu, wie es zu eurem Vorteil ist. [16] Und dann der immer wieder unglaubliche Witz zwischen Sam Hawkins und Old Shatterhand! ``Nicht uebel gedacht. Steht so etwas auch in Euren Buechern zu lesen, Sir?'' -- ``Woertlich und genau auf diesen Fall passend nicht. Doch es kommt darauf an, wie man ein solches Buch liest. Man kann wirklich viel daraus lernen und es dann in der Wirklichkeit fuer an- dere aehnliche Faelle anwenden.'' [17] Damit hat er recht. 23) Karl May: Halbblut [de] Anschliessend habe ich noch diese 140-seitige Geschichte gelesen. Eigentlich wollte ich eher den ``Schatz im Silbersee'' lesen, der z.B. auch die Story fuer das Europa-Hoerspiel ``Old Firehand 1'' liefert, das ich sehr mag. Dieses Buch hatte ich nur nicht zur Hand. Es ist interessant, wie verwoben bei Karl May alles ist. Er hat so viele Geschichten geschrieben, mit so vielen Personen, so vielen Ueberschneidungen und Zwischenstuecken und Sprenkeln! 24) Andreas Michels: 111 Gruende, Rollenspiel zu lieben [de] Dann zwischendurch dieses Buch, einfach um einen Einblick zu bekommen in das Thema Rollenspiel, fuer das (d.h. Pen and Paper) ich mich schon laenger (wenn auch eher passiv) interessiere. Das Buch war ein guter Crashkurs und Rundumschlag. Nicht ueberragend, aber an sich schon das, was ich gesucht habe. 25) Lann Hornscheidt: Zu Lieben [de] Parallel zu den letzten drei Buechern, habe ich den ganzen Juni ueber an diesem Teil des zuvor bereits erwaehnten Bueches gelesen. Normalerweise lese ich nicht parallel in Buechern, hier war es aber ganz gut, immer wieder Pause machen zu koennen und etwas Leichtes fuer nebenher zu haben. Das Buch hat mich sowohl sprachlich als auch inhaltlich (heraus)gefordert. Zugleich habe ich mich selber darin oft wiedererkannt. Endlich habe ich Worte gefunden fuer Gedanken und Gefuehle, die ich schon laenger habe. So viele Geschichten und Betrachtungsweisen, in denen ich mein eigenes Denken und Fuehlen erkenne! Und daneben auch sachliche Analysen und politische Aussagen. Lieben als politisches Handeln ist weder narzisstisch noch altruistisch oder uns selbst ignorierend, sondern bedeutet, unsere Verbundenheit mit uns selbst und Welt wahrzunehmen und zu gestalten. Ein solches grundlegendes politisches Handeln wuerde unsere Ein- stellung in der Welt, unsere Haltung und unser Agieren nachhaltig veraendern und so vielleicht zu einer sehr grundlegenden gesellschaftlichen Veraenderung werden koennen. [18] Schoen finde ich, dass Lann Hornscheidt gesellschaftliche Normen grundsaetzlich in Frage stellt, indem Lann sie aus anderen Per- spektiven beleuchtet. Die Neugestaltung der Sprache ist dabei ein Hilfsmittel. Mich nahbeziehen ist ein Handeln, das ich mache und kein Objekt, das ich zusammen mit anderen bilde und das mich zusammen mit anderen Personen dann ausmacht (`das Paar'). [19] 26) Barbara Vine: Das Haus der Stufen [de] Dann war Juli und ich habe dieses Buch gelesen, das ich bei einem Buechereiflohmarkt nur deshalb mitgenommen habe, weil mich Titel mit Stufen irgendwie anzuziehen scheinen. ;-) Das Buch ist weit besser als es von aussen den Anschein macht. Das Design wirkt wie von 1960, dabei ist die deutsche Ausgabe von 1990. Alles in Allem eine sonderbare Mischung ... und darum irgendwie wie wenn das Buch gar nicht in der Zeit verortet waere -- fuer kein Jahrzehnt wirkt es passend. -- Seltsam und faszinierend. Mein Herz war wund. Ich hatte meine Traeume gehabt, hatte absurde Plaene geschmiedet. Unser Verhaeltnis -- oder wie immer man es nennen mochte -- hatte keine Zu- kunft, das wusste ich wohl, aber ich hatte die roman- tische Vorstellung, dass es immer eine besondere Bin- dung zwischen uns geben wuerde, dass auch in spaeteren Jahren wir beide uns immer am naechsten sein wuerden. Ein gewisses Zeremoniell wuerde sich herausbilden, wir wuerden uns beispielsweise einmal im Jahr treffen und miteinander schlafen, wir wuerden immer in dieser ein- zigartigen Freundschaft verbunden sein, unsere geheime Beziehung wuerde unser beider Leben bereichern, eine besondere Empathie wuerde zwischen uns entstehen [...] [20] Auf die Titelseite habe ich geschrieben: ``Wie ein Salatkopf: Nach und nach von aussen her geschaelt.'' Durchaus ein Geheimtipp. 27) Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit [de] Ich weiss nicht, wie oft ich dieses Jahr noch schreiben muss, dass dies oder jenes ein einfach unglaubliches Buch war, ein Highlight des Jahres. Wie sehr mir dieses Buch doch entspricht! Einzelne Ausschnitte koennen seine Aussage nicht wiedergeben. Darum hier einfach mal diese Zeilen: ``Den Menschen bessern! Das koennen nur dreierlei Dinge: das Studium der Vergangenheit, die gesunde Le- bensweise in der Natur und bei Krankheiten die Arznei. Alles andere bessert nicht, es ist nur Politik und Zer- streuung.'' [21] Und das hier: John merkte im Laufe der Zeit doch, dass er arbeitslos war und sich unnuetz fuehlte. Nie hatte er gedacht, dass ausgerechnet er sich wuerde langweilen koennen. Aber das war jetzt ein anderes Warten als je zuvor: er hatte einen Beruf, hatte ein Ziel -- und nun ging es nicht weiter! [...] Da hatte er nun gelernt, auf einem Schiff Kopf und Koerper zusammenzubringen, da war er nun ein guter Of- fizier und so stark wie nie zuvor und nie danach. Sollte jetzt nichts mehr kommen? [22] Treffender geht es nicht mehr! ... auch wenn diese Stellen eher wenig mit dem eigentlichen In- halt zu tun haben. Es ist ein Buch, das man wahrscheinlich als Ganzes erfahren muss, um seine Aussage begreifen zu koennen. 28) Carolin Emcke: Wie wir begehren [de] Das andere Buch von ihr hatte mir so gut gefallen, dass ich Ende Juli noch eines gelesen habe. Das war wieder so gut. vielleicht wusste ich noch nicht, was ich wollte oder warum, aber ich wusste, was ich nicht wollte, wozu ich mich einfach nicht ueberwinden konnte, wo ich allein zurueckblieb, auch wenn es allen anderen normal schien. [23] Mich verstanden zu fuehlen! Meine Gefuehle und Wahrnehmungen in Worten formuliert lesen zu koennen! Mich nicht mehr absonderlich und alleine fuehlen zu muessen! Unglaublich, wie gut das tut. 29) Thor Heyerdahl: Auf Adams Spuren [de] Im August war ich auf Thor Heyerdahls Spuren unterwegs. Im Juli schon habe ich mich mit Segelschiffen befasst. [24] Als dann auf Arte der neue Kon-Tiki-Spielfilm gekommen ist, habe ich das Buch gelesen, bevor ich ihn angeschaut habe. [25] Das Buch war toll! Dabei bin ich ein friedlicher Mensch und in erster Linie daran interessiert, Probleme zu loesen und of- fenen Fragen auf den Grund zu gehen. Und je mehr ich tue, je mehr ich sehe, um so klarer wird mir, welche erschreckende Unwissenheit unter Gelehrten herrscht, die sich Autoritaeten nennen und so tun, als haetten sie das Monopol auf Wissen. Hier muss aufgeraeumt wer- den. [26] An Heyerdahl gefaellt mir seine Aussenseiterperspektive, quer zum Ueblichen zu liegen, und dadurch einen entscheidenden Vorteil zu haben oder Mehrwert einzubringen, der aber (nur aus Gewohnheit und um den Status quo zu bewahren) abgelehnt wird, weil Andersar- tiges nicht gut sein koenne. Er ueberzeugt durch Demonstration. Das finde ich einen konstruktiven Ansatz. An den sollte ich mich selber auch oefters halten! 30) Goethe: Die Wahlverwandtschaften [de] Die zweite Haelfte des August hat Goethe gehoert. Teilweise fiel es mir schwer, die noetige Ruhe fuer ihn zu finden. Ein solches Buch muss mit einer passenden inneren Verfassung gelesen werden. Auch wenn es die anfaengliche Qualitaet gegen Ende nicht ganz durchhalten konnte, wie ich finde, so ist es, ungeachtet dessen, voller Schaetze. An dem Gaertner aber hatte sie zu troesten ueber manche durch Lucianens Wildheit entstandene Luecke unter den Topfgewaechsen, ueber die zerstoerte Symmetrie mancher Baumkrone. Sie machte ihm Mut, dass sich das alles bald wieder herstellen wuerde; aber er hatte zu ein tiefes Gefuehl, zu einen reinen Begriff von seinem Handwerk, als dass diese Trostgruende viel bei ihm haetten fru- chten sollen. [...] Die Pflanze gleicht den eigensinni- gen Menschen, von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt. [27] Wenn ich folgende Zeilen lese, dann koennten sie (in modernerer Sprache) ebenso bei Hornstein und Co. zu finden sein: Durch das, was wir Betragen und gute Sitten nennen, soll das errreicht werden, was ausserdem nur durch Gewalt, oder auch nicht einmal durch Gewalt zu erreichen ist. [28] 31) Castle Freeman: Der Kluegere laedt nach [de] Im September zum Ausgleich eine leichtere Geschichte, mit ein bisschen (schwarzem) Humor ... aber doch auch mit Inhalten. Sie waren eben tausendmal schlauer, staerker, haerter, besser, qualifizierter, verdienstvoller als alle an- deren, und darum war es ganz klar, dass sie oben waren. Sie konnten nicht verstehen, dass sie das, was sie waren und was sie erreicht hatten, wie jeder andere hauptsaechlich ihrem Glueck verdankten. [29] Das kommt mir irgendwie bekannt vor: Das alles folgt einer Dramaturgie, die jeder versteht. Die Gemeinderaete jammern ueber das viele Geld. Der Sheriff jammert ueber die horrenden Kosten fuer Benzin, Versicherung, Reinigung, Kaffee, Handschellen, Munition und alles moegliche andere, das ihm einfaellt. Man ist sich einig, dass die Lage schlecht ist und sich ohne einschneidende Massnahmen zunehmend verschlechtern wird. Dann wird die Sitzung vertagt, und alles geht weiter wie zuvor. [30] 32) Lisa Halliday: Asymmetrie [de] Wie haette ich an diesem Coverbild vorbeigehen koennen?! Und auch der Titel hat mich angesprochen. Irgendwie denke ich dann immer, dass das viel zu primitiv ist, wenn ich Buecher so auswaehle, aber andererseits ist es oft erfolgreich. In diesem Fall war es ein Volltreffer! Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten wuerde. Den Text auf dem Back-Cover habe ich bewusst gar nicht erst gelesen. Wenn ich entschieden habe, ein Buch zu lesen, mich darauf einzulassen, dann koennen weitere Informationen diesen Wunsch nicht mehr ver- staerken, sie koennen ihn mir hoechstens vermiesen. Das Buch hat eine Menge inhaltlicher Breite, nicht nur ueber die zwei so sehr unterschiedlichen Teile. Der zweite Teil analysiert die Asymmetrie auf der Welt in hervorragender Weise. Er macht sie sichtbar, so einfach greifbar. Das wirkt so selbstverstaendlich, dabei kommt es einem im Alltag, wenn man sich die Menschen an- schaut, wie unmoeglich vor. Ihr seid zum *Mond* geflogen, sagte ein Freund meines Onkels einmal zu mir, nachdem er erfahren hatte, dass ich Amerikaner bin. Wir *wissen*, dass ihr das in Ordnung bringen koenntet, wenn ihr wirklich wolltet. [31] Zugleich hat das Buch auch ganz andere Ebenen: Die Wirkung auf Alice war ueberwaeltigend und entmu- tigend zugleich: Den Widerhall dieser Musik im Brust- bein, wuenschte sie sich noch verzweifelter als sonst, etwas zu *machen*, zu *erfinden* und zu *kreieren* -- all ihre Kraefte zur Erschaffung von etwas Schoenem und fuer sie selbst Einzigartigem zu buendeln --, aber daneben weckte es in ihr auch den Wunsch zu lieben. Sich ganz der Liebe zu einem anderen hinzugeben, einer so tiefen und guten Liebe, dass sich die Frage, ob sie ihr Leben vergeudete, gar nicht erst stellte [...] [32] ... die Leichtigkeit ihrer asymmetrischen Liebe! Ganz ohne alle Frage nach Richtig und Falsch ... Sie ist einfach. Was fuer eine Wohltat! Und die treffende Betrachtungsweise in solchen Aussagen: MODERATORIN: Sind Sie insgesamt zufrieden mit dem, was Sie im Laufe Ihres Lebens erreicht haben? EZRA BLAZER: Ja, insofern, als ich es nicht besser haette machen koennen. Ich habe mich nie vor meiner Pflicht gedrueckt. Ich war fleissig. Ich habe mein Bestes gegeben. Ich habe nie irgendetwas in die Welt hinausgelassen, das ich in meinen Augen nicht so weit getrieben haette, wie ich konnte. Bereue ich die Veroeffentlichung einiger weniger guter Buecher? Eigentlich nicht. Zum dritten Buch gelangt man nur, in- dem man Buch eins und zwei schreibt. Dass man ein ein- ziges, langes Buch schreibt, waere eine zu poetische Betrachtungsweise. Aber es ist eine einzige Karriere. Und im Nachhinein betrachtet, war jeder Teil davon wichtig, wichtig fuer den naechsten Schritt. [33] Ein erstklassiges Buch! Es hat von allem etwas. Mehr kann man sich nicht wuenschen! 33) Emily Brontë: Die Sturmhoehe [de] Anfang Oktober. Reproduziert Boeses nur immer wieder Boeses? Schaut man sich die vielen, vielen Fehler in der Erziehung an, so sind die Folgen nicht ueberraschend. Nicht nur die Boshaftigkeit gegenueber Kin- dern, sondern auch das Ueberbehueten und Bewahrenwollen. Auch gegenueber Kindern ist Augenhoehe wichtig, Aufrichtigkeit und Realitaetsakzeptanz. Entscheidend ist es, ihnen Blickwinkel, Bewertungsansaetze und Handlungsmoeglichkeiten an die Hand zu ge- ben, damit es ihnen moeglich wird, selber in der Welt zu bestehen. Koennen wir aus unserem Sein ausbrechen? Nelly, ich *bin* Heathcliff! Ich habe ihn immer, immer im Sinn, nicht zum Vergnuegen, genausowenig, wie ich mir selbst stets ein Vergnuegen bin, sondern als mein eigenes Sein. [34] Nicht alles muss geaendert werden; Akzeptanz, Annahme und ein Umgang damit ist auch ein Weg. Mein Zugang zu diesem Klassiker war das Lied von Kate Bush. Das Buch habe ich in der Bahnhofsbuchhandlung in Frankfurt liegen sehen. Der Moment war so gut wie jeder andere, es mitzunehmen. Das Insel Taschenbuch ist gestalterisch und typographisch hervor- ragend. So wuensche ich mir Buecher! 34) Liv Strömquist: Der Ursprung der Welt [de] Von dem Comic hatte ich schon frueher gehoert, ihn mir dann aber nur gemerkt, nicht aber gelesen, bis Humboldtine mich wieder darauf gebracht hat. Dann habe ich das Buch gekauft und war be- geistert! Das Cover finde ich durchaus etwas herausfordernd und auch nicht besonders passend (wenngleich ihm eine gewisse Aesthe- tik innewohnt). Gut gefaellt mir, dass der ganze Inhalt des Buches eigentlich Selbstverstaendlichkeiten sein sollten, es aber oft genug nicht sind. Es muss mehr darueber geredet werden. Das Tabu von Vulva, weiblicher Sexualitaet insgesamt und der Men- struation muss verschwinden! 35) Attica Locke: Black Water Rising [en] Ende Oktober habe ich dieses Buch gelesen, das ein Zufallsfund im Internet war. Ich hatte Lust auf einen englischen Roman und habe mehr oder weniger willkuerlich zugeschlagen. Wieder hatte ich Glueck. Das Buch war richtig gut. This movement wasn't about keeping score or getting even, at least not for him. He really believed they could change things. And he didn't see any reason why whites shouldn't be a part of that too. Hell, they had made this mess of racial inequality in the first place; why shouldn't they have a hand in cleaning it up? [35] Und: ``And I'm telling you-all'', the Rev says, ``pretending people aren't black is not the way to equality. It's not even possible, first of all. Any more than I can pretend you aren't who you are.'' ``I thought this is what you all wanted'', Bodine says sincerely. ``I think the hope has always been that you see what you see, and you take us anyway, for who we are'', the Rev says. ``Not that we all go around pretending we're the same. I don't see how that helps anybody.'' [36] Aber ebenso: Jay looks at the mayor, searching for traces of the girl he used to know, beneath the frosted tips and split ends, beneath the heavy makeup, which has, at this hour, begun to settle into the deep creases around her mouth. He can tell how hard she's trying to manage her image, and it makes him kind of sad. [37] (Man merkt, dass die Autorin Drehbuchschreiberin ist. Die Geschichte ist stark visuell ausgearbeitet! Man kann sie regel- recht *sehen*.) Ein tolles Buch. 36) Stephen King: Der Nebel [de] Anfang November hatte ich (schon) wieder Lust auf Stephen King. Diese Geschichte ist dem Sammelband ``Skeleton Crew'' entnommen. Ich bin kein so grosser Freund von Sammelbaenden. Mir sind separate Buecher lieber. 220 Seiten sind auch genug fuer eine separate Veroeffentlichung. Bei Stephen King kann man jedoch die ``richtigen'' Buecher gut von den kurzen Geschichten unter- scheiden. Letztere sind die, die nicht weit genug ausgearbeitet worden sind. Ihnen fehlt eine gewisse Groesse, oder ein Umfang, oder eine Tiefe, oder die Muehe -- jedenfalls sind sie wie nicht ganz fertig oder wie nur ein Ausschnitt ... obgleich sie nicht schlecht sind. An sich geht es hier um Horror und eine uebernatuerliche Bedrohung ... im Innern ist es aber, wie so oft, eine Sozialstu- die von Menschen in einem psychisch belastenden Szenario. Zugege- ben, die Rollen sind klar verteilt, aber die Vergegenwaertigung und Analyse dessen, was passiert, gefaellt mir dennoch gut: Die waren total uebergeschnappt, das war alles. Sie hatten voruebergehend ihr Urteilsvermoegen eingebuesst. Vorn im Supermarkt waren sie verwirrt und beunruhigt gewesen. Hier drinnen standen sie vor einem konkreten mechanischen Problem: einem verstopften Generator. Es war moeglich, das Problem zu loesen. Es zu loesen, wuerde ihnen helfen, sich weniger verwirrt und hilflos zu fuehlen. Deshalb wollten sie es loesen. [38] Leider sind die Erkenntnisse zutreffend. Und wenn die Leute lange genug Angst haben, werden sie sich jedem zuwenden, der ihnen Rettung verheisst. [39] 37) Boris Pasternak: Doktor Schiwago [de] Das Jahr endete mit knapp zwei Monaten, die ich mit diesem Buch verbracht habe. Ein Werk wie dieses (das so viel von ``Anna Karenina'' hat -- Tolstoi ist auch mehrfach im Buch erwaehnt), ist zu gross, um es greifen zu koennen. Was soll ich dazu schreiben?! Ganz sachlich betrachtet, hatte ich anfangs (wie auch schon bei Tolstoi) so meine Schwierigkeiten mit den russischen Namen und Namensformen. Das hat die Lektuere zuweilen anstrengend gemacht, aber Anstrengung darf schon auch vorhanden sein, zumal sie umgehend durch Qualitaet und Groesse belohnt worden ist. Buecher dieser Art kann man nicht beschreiben, man kann sie hoe- chstens vergleichen ... mit anderen Buechern von gleicher Art. Und das alles ergoss sich in einem Wortschwall jener verlogenen, ueberfluessigen und hohlen Beredsamkeit, von der sich das wahre Leben so gern befreien moechte. Wie sehr verlangte es ihn zuweilen, aus dem Dickicht der eitlen und luegenhaften menschlichen Geschwaetzig- keit in die erhabene Stille der Natur oder in die stumme Gefangenschaft einer langen, zaehen Arbeit zu fluechten! Wie sehnte er sich nach der Selbstver- gessenheit eines tiefen Schlafen, nach Entrueckung durch die Musik, nach dem schweigenden Einverstaendnis in sich erfuellter Herzen und Seelen! [40] Damit ist wohl alles gesagt. Nicht aufgelistet sind: - Anna Burns ``Milkman'', das ich nach 88 von 350 Seiten abgebro- chen habe, weil ich einfach nichts damit anfangen konnte. Es kommt hoechst selten vor, dass ich Buecher abbreche. - Lustiges Taschenbuch Classic: Die Comics von Carl Barks, Band 1 und 2. - Ebenfalls ausserhalb der Liste ist mein Einstieg in die ``Valerian & Veronique'' Comics. Fuenf Stueck habe ich gelesen: * Schlechte Traeume * Die Stadt der tosenden Wasser * Im Reich der Tausend Planeten * Botschafter der Schatten * Truegerische Welten Ich bin fasziniert. Sie sind so gut! Am besten gefaellt mir ``Botschafter der Schatten'', aber die Manhatten-Szenen in ``Stadt der tosenden Wasser'' sind optisch auch einfach genial. Im Vergleich zu den meisten Comics, die ich kenne, schaffen es Mézières und Christin, mit jeder Geschichte eine so komplett neue, andere Welt zu schaffen. Das finde ich beeindruckend. Ich habe noch weitere Geschichten vorraetig. Darauf freue ich mich schon sehr. Insgesamt waren es 37 Buecher dieses Jahr (nach 30, 28, 16, 22, 33, 26, 13, 15, 21 in den Vorjahren), also ein neuer Rekord. Manche der Buecher waren jedoch duenn (so habe ich beispielsweise den bewegten Mann als Buch aufgenommen (die Valerian & Veronique Geschichten hingegen nicht)) auch sind Kurzgeschichten und Buchteile separat aufgefuehrt, dafuer hat mich ``Doktor Schiwago'' fast zwei Monate in Beschlag genommen. All diese Zahlen sagen darum letztlich wenig aus. Es sind willkuerliche Festlegungen. Es waren nur 3 englischsprachige Buecher, gegenueber 34 deutschen. Die Kategorisierung nach Buchtypen faellt mir wieder schwer, weil es viele Ueberschneidungen gibt, gerade zwischen Ro- man, Sachbuch und Biographie. Aber hier zumindest eine grobe Ein- teilung: 24 Romane, 6 Sachbuecher, 3 Biographien, 2 Computer- buecher und 2 Comics. Mein Stapel zu lesender Buecher ist dieses Jahr noch weiter gewachsen, teils durch Buchgeschenke (obgleich ich angefangen habe, aktiv zu bremsen), teils durch Empfehlungen und was mir halt so begegnet ist. Hier liegen bestimmt um die 20 Buecher, die in absehbarer Zeit gelesen werden sollten und wollen. Zunehmend fuehle ich mich davon unter Druck gesetzt. Ich will versuchen, wieder strikter Zeug wegzulesen und nur begrenzt neues zuzu- lassen. Andererseits sind darunter mehrere anstrengendere Werke aehnlicher Art, zwischen denen ich Erholungspausen und Abwechslung brauchen werde. Stupide abarbeiten kann ich sie also nicht, und will das auch nicht. Ich will Buecher schon dann lesen, wenn sie mich ansprechen und ich auch Lust auf die Themen habe und offen fuer sie bin. Was Virginia Woolf angeht -- das alljaehrliche Thema --: Inzwischen steht immerhin mal ein Buch im Regal. Ich weiss also mit was ich anfangen werde. Das ist schon mal ein Fortschritt. Nun, da ich diesen Buecherrueckblick in den ersten Tagen des neuen Jahres abzuschliessen versuche, stecke ich auch schon im ersten Buch von 2021. Es ist mal kein Stephen King, aber ebenso ein passendes Jahresanfangsbuch. ... Ach ja, ich sollte viel- leicht noch erwaehnen, dass ich dieses Jahr ganze 5 Buecher von Stephen King gelesen habe! Nun gut, drei davon waren Kurzgeschi- chten (180, 80, 220 Seiten) aber ``The Stand'' hatte zum Aus- gleich 1200. Was kommt nun im neuen Jahr? Mehrere Sachbuecher, so viel laesst sich wohl sagen. Und ``Blauer Hibiskus'', das mir Bine geschenkt hat, ganz sicher auch! Alles weitere wird sich zeigen. [0] S. 410 [1] S. 33 [2] S. 305 [3] S. 21 [4] S. 180 [5] p. 48 [6] http://marmaro.de/apov/txt/2020-02-29_somethings-burning- baby.txt [7] S. 103 [8] S. 201 f. [9] S. 12 [10] S. 48 [11] S. 165 [12] S. 574 [13] S. 31 [14] S. 56 [15] S. 23 [16] S. 65 [17] S. 85 [18] S. 59 [19] S. 221 [20] S. 293 [21] S. 174 [22] S. 176 [23] S. 127 [24] http://marmaro.de/apov/txt/2020-07-17_segelschiffe.txt [25] http://marmaro.de/apov/txt/2020-08-16_ueberzeichnete- dramatik.txt [26] S. 19 [27] S. 191 [28] S. 163 [29] S. 33 [30] S. 98 [31] S. 260 [32] S. 95 [33] S. 305 [34] S. 112 [35] p. 123 [36] p. 351 [37] p. 227 [38] S. 81 [39] S. 177 [40] S. 159 http://marmaro.de/apov/ markus schnalke