2020-07-17 the real world Segelschiffe Unstrukturiertheitsthese In den letzten Tagen bin ich (ueber das Buch ``Die Entdeckung der Langsamkeit'') auf das Thema Segelschiffe gekommen. Dass die Seefahrt ein reiches Vokabular besitzt ist gemeinhin bekannt. Dies scheint abschreckend zu sein. Jedenfalls hat sich mein Ein- blick dort auf nur eine Handvoll Begriffe beschaenkt: Bug, Heck, Backbord, Steuerbord, Luv, Lee, Kiel, Mast, Deck, Kajuete, gerade so noch Wanten, schon nicht mehr Schott oder Fall ... und alles fuer den Wind sind halt Segel. Nun habe ich vor allem versucht mir den Bereich der Segel an- zueignen. Wie heisst also welches Segel? Welche Arten von Segeln gibt es? Wie haben sie sich entwickelt? Wie werden sie eingesetzt? Usw. Das war (und ist) gar nicht einfach. Eine Huerde stellt die fremde sprachliche Welt dar, in der die einen unbekannten Begriffe mit anderen unbekannten Begriffen erk- laert werden. Das ist in Wikis, also ungeordneten Informa- tionsnetzen, besonders schlimm. Bei meinen ersten Kontakten mit Wikis hat mich das stark gestoert: Es gibt keinen Anfang, es gibt keinen Weg der an allem vorbei fuehrt, und man sieht nicht was es sonst noch gibt. Als Nachschlagewerk in einem grundsaetzlich bekannten Themenge- biet ist ein Wiki gut. Als Einstieg in ein neues Thema oder zum strukturierten Wissensaufbau aber nicht. Was dem Wiki fehlt ist Struktur, und ihm fehlt die uebergeordnete Perspektive. Wikis sind wild querverknuepfte Wissenspunkte, die alle aus Einzelperspektiven geschrieben worden sind. Damit kann man sich neue Themenfelder nicht ordentlich aneignen. Die wichtigste Zutat fuer das Verstehen ueber den Aufbau der eigenen Wissenslandschaft ist Struktur. Hunderte von Einzelbez- iehungen helfen weniger als drei Grundstrukturen. Dabei ist zweiteres viel weniger Information. Die Wikipedia ist aber voll von ersterem. Dutzende mir nichtssagende Segelnamen sind vor meinen Augen vor- bei geschwommen, bis ich herausgefunden habe, dass es Rah- und Schratsegel gibt, als grundsaetzliche Unterteilung. Erstere sind in Ruhestellung quer zum Kiel, zweitere laengs. Schratsegel haben Unterarten wie Lateinersegel, Gaffelsegel, Stagsegel, Bermu- dasegel. Diese sind unterschiedliche Entwicklungsstufen, haben unterschiedliche Zwecke, sind unterschiedlich kombinierbar, haben Vorteile gegenueber Rahsegeln, bzw. ergaenzen sie. Diese Infor- mationen beginnen aber erst Sinn zu machen nachdem man die grundlegende Struktur der Segeltypen kennengelernt hat (und weiss auf welcher strukturellen Ebene sich ein Begriff befindet).. Bei den Rah-Segeln hat jedes einen eigenen Namen, je nachdem wo es sich befindet. Dafuer gibt es ein System -- Aha! (Es hat gedauert bis ich das in dem Informations-Wirr-Warr gefunden hatte.) Rah-Segel sind nach Masten und Stockwerk geordnet. Das unterste Segel hat keinen eigenen Namen weil es anfangs das ein- zige Segel am Mast war. Darum heisst es nach dem Mast. Der Mast wird immer vorangestellt. Das Focksegel ist also das unterste Segel am Fockmast (der vorderste). Das Grosssegel ebenso das un- terste am Grossmast (der zweite). Das Kreuzsegel am Kreuzmast (oft der hinterste). Das Segel darueber heisst Marssegel. Dann kommt das Bramsegel. Darueber selten noch Royalsegel und noch seltener Sky- und Mondsegel. Weil grosse Segel schwer zu handha- ben sind, hat man irgendwann angefangen die Mars- und Bramsegel in Ober- und Unter- zu teilen. (Ob das dritte Segel von unten das Obermarssegel, das Bramsegel oder das Unterbramsegel ist, laesst sich wohl nur aus dem historischen Kontext und der Verhaeltnisse der Segel herleiten.) Das Kreuzunterbramsegel ist folglich das dritte oder vierte Segel von unten am Kreuzmast, der nor- malerweise der hinterste rahgetakelte Mast ist. Zudem wissen wir, dass wir uns im Kontext von Rahsegeln befinden. Wenn am letzten Mast nur Schratsegel haengen (er also keine queren Rahen besitzt), dann heisst dieser Besanmast und sein Segel Besansegel. (Wenn am letzten Mast Rahsegel haengen aber zudem ein Schratsegel angebracht ist, heisst er Kreuzmast, das Schratsegel aber Besan- segel.) Das ist alles einfach wenn man erst die Struktur der Sache ver- standen hat. Es bleibt aber schwer, egal wie viele Einzelinforma- tionen man aufnimmt, wenn diese unstrukturiert sind. Strukturen muessen nicht universell sein. Es mag unterschiedliche Begriffe und Zaehlweisen geben, ob man den Schiffsbauer fragt, oder man die Takelage neutral betrachtet, oder man sich im Gefecht befindet. Vielleicht gibt es eine windrichtungsabhaengige Perspektive (z.B. Leesegel) und eine gegner- oder landwaertige Perspektive. Auf informationspunktartigen Wikiseiten ist das die Hoelle, in einer Wissensstruktur ist es nur eine weitere Struktu- rierungsebene, deren Begriffe nebenbei die eingenommene Perspek- tive transportieren. Schreibe ich ``Ross'' statt ``Pferd'', so ist der Kontext gleich klar. Nenne ich den Chef ``Manager'', ``Entscheider'' oder ``Koordinator'', so zeigt das verschiedene Perspektiven und un- terschiedliche Rollen von ihm. Im Discgolf waere ``understable fairway driver'' eine neutrale Beschreibung einer Frisbee. ``beat-to-death utility disc'' waere die Funktion im Bag. ``woods disc'' dagegen die Einsatzperspektive fuer die gleiche Frisbee. Wem die Kenntnis ueber die Struktur der Sache und ueber die verschiedenen Perspektiven fehlen, der wird durch die per- spektivabhaengigen Synonyme ueberfordert. Wer diese Kenntnis aber hat, der begibt sich in der Struktur nur in andere Bereiche oder in andere Perspektiven. Sich die Struktur bewusst zu machen ist ein essenzieller Schritt. Tut man ihn nicht, dann wird dem eigenen Schaffen in dem Bereich stets eine gewisse Unstrukturiertheit anhaengen. Es wird Dop- plungen geben, Ueberschneidungen, Unklarheiten -- es wird die Orthogonalitaet fehlen. Ein klar strukturiertes Verstaendnis der Sache schafft auch zukuenftig mehr Struktur. Dieses Segelzeug ist auch deshalb schwer verstaendlich, weil ihm grundlegend die Klarheit der Struktur fehlt. Ich behaupte, dass dieses Defizit erst dazu gefuehrt hat, dass sich so viel Wildwuchs ergeben hat. Und dieser wiederum fuehrt dazu, dass das Wissen weniger strukturbasiert sondern mehr fallbasiert dokumen- tiert und weitergegeben wird (was wiederum die gleichen Defizite aufrecht erhaelt). Und darum sind nun auch die Wikipediaseiten so unstrukturiert. Meine These sehe ich auch bei der Uhrzeit bestaetigt. Die Nicht- dezimalitaet der Uhrzeit hat zur Folge, dass sie weniger als mathematische Groesse wahrgenommen wird. Man rechnet weniger mit ihr (weil es furchtbar umstaendlich ist) und hat folglich auch keine soliden Notationen. Welche Einheit haben denn 2,5h in dieser Schreibweise: 2:30:00? `h' oder `s' oder `T'? Und welche bei: 2:30? Daraus erklaert sich -- meiner These nach -- das erstaunliche Fehlen von und die Unstrukturiertheit der Zeit- /Datumstools und ihrer Formate in Unix. (Dies wurde den Entwick- lern zusaetzlich dadurch erschwert, dass sie ein ungeordnetes Da- tumsformat ``MM/DD/YYYY'' gewoehnt waren.) Ihr Ausweg war eine neue Zeiteinheit: Die Unix Epoche, also die Sekunden seit 1970- 01-01. Aber trotz dem es in Unix fuer fast alles Tools gibt, gibt es keines, das die Zeitdifferenz zwischen zwei Zeitpunkten (in nicht Timestamps) ausrechnet. Das Motiv ist eben: Mit Zeiten re- chnet man nicht (genausowenig wie die Roemer mit Zahlen). Ich sage nicht, dass eine beliebige Struktur gut ist, aber eine passende ist es. Die Struktur muss die Leitlinie sein. Sie muss das Denken stuetzen, ohne es einzuschraenken. Man sollte Struk- turen wenn noetig aendern. Falls dies zu oft noetig ist, sind die Strukturen strukturell schlecht. Es wird immer behauptet werden, dass es nicht an den Strukturen liegen wuerde. Es wird immer behauptet werden, dass passende Strukturen unmoeglich seien ... das das alles das natuerliche Chaos der geschichtlichen Entwicklung waere. Es wird immer behauptet werden, dass meine These und meine ganze Perspektive auf das Thema unzutreffend waeren, weil es unmoeglich ist etwas daran zu beweisen. Die unstrukturierte Mehrheit wird immer ihre bequeme Position verteidigen, gegen die nicht anzukommen ist. Und der klare Blick wird nur von denjenigen verstanden werden, die ihn selber haben. (Thor Heyerdahl konnte wenigstens durch beeindruckenden riskanten Selbsteinsatz seiner bahnbrechenden Theorie gegen den Widerstand der gesamten Fachwelt zum Durchbruch verhelfen. Heyerdahl passt gleichfalls wunderbar zum Segelteil des Textes. Fuer mich gehoert er zu den beeindruckendsten Personen der Menschheitsgeschichte.) http://marmaro.de/apov/ markus schnalke