2020-07-05 gesellschaftsanalyse Das Gute auf der Welt Gesellschaftliche Grenzen Ich bin eben doch naiv, intuitiv naiv. Immer wieder gehe ich ganz automatisch davon aus, dass sich die Menschen um mich herum so verhalten wuerden wie ich mich ihnen gegenueber auch verhalten wuerde, haetten wir getauschte Rollen. Viel zu oft werde ich enttaeuscht, habe Nachteile, bloss weil ich zu viel an andere denke. Anstatt mir einfach zu nehmen was ich gerne haette, frage ich mich, ob es nicht andere geben koennte, die es besser brau- chen koennen. Am Ende koennen die es nicht besser brauchen und doch habe ich es nicht. Es sieht nicht so aus als ob ich dazuler- nen wuerde. Voller Freude habe ich erst vor einer Weile den Nagellack auf meinen Zehen erneuert. Kurz darauf habe ich ihn spontan wieder entfernt. Es ist traurig! Er hemmt mich barfuss zu laufen, was ich aber gerne mehr tun wuerde. Ich kann mich nicht unbeeinflusst verhalten; das Thema draengt sich auf; ich muss explizit damit umgehen; Natuerlichkeit ist unmoeglich. Darueber hinaus irritiere ich die Leute zwangslaeufig. Auch tolerantere Menschen sind irri- tiert. Nagellack hat so viel kulturelle Bedeutung und Implika- tionen! Er kann nicht einfach so hingenommen werden wie ver- schiedene Haarfarben, Kleidungsstuecke, ... oder eben Nagellack bei Frauen. Neben dem zwangslaeufigen Zum-Thema-Werden (egal ob ausgesprochen oder nicht) leide ich unter dem Unverstaendnis der Menschen um mich. Nagellack an meinen Fuessen wird von ihnen falsch verstan- den werden. Dass sie es nicht verstehen ist weniger das Problem, sondern die umfassenden Auswirkungen die es durch das Unverstehen hat. Man opfert seine gesellschaftliche Stellung und den Ruf der Familie dabei. Dieser Preis ist riesig. Darum versucht man nicht aufzufallen, darum vertrauen sich Menschen nur den Freunden und der Familie an, darum suchen sie sich andere Umgebungen die frei von diesem Schadenspotenzial sind. Personen mit denen ich nichts zu schaffen habe kuemmern mich weniger; schlimm sind diejenigen, die man gern hat, die es aber nicht verstehen koennen -- wegen Kultur- und Generationenkonflik- ten. Ich will niemandem weh tun, ich will aber trotzdem Ich sein. Wenn ich die Geschlechtskopplung von Nagellack beispielsweise falsch finde, dann will ich mich verhalten koennen als sei sie nicht vorhanden. Wenn ich Hass auf der Welt schlecht finde, dann will ich lieben duerfen wie es mir entspricht. In manchen Bereichen wird einem die eigene Lebensgestaltung zugestanden, in anderen bricht man Tabus, mit schrecklichen Fol- gen. Ich habe kein sexuelles Interesse an Maennern, doch das ist womit ich gebrandmarkt werden wuerde, wenn ich von den Leuten mit Nagellack gesehen werde. Dass ich das nicht abwertend finde aen- dert nichts daran, dass Dritte mich deswegen abwerten und aus- grenzen wuerden. Das ist ein Komplex verschiedener Probleme, die mir alle zuwider sind. Ich will sie nicht thematisieren muessen. Ich will sie noch nicht mal wahrnehmen muessen. Ich will, dass Menschen sein duerfen wie sie sind, ohne diskriminiert zu werden. Ich will meine eigene Lebensmischung zusammenstellen und mich an ihr erfreuen. -- Wo ist das Problem? Ich nehme gerne das Nagellack-Beispiel, denn damit habe ich einige praktische Erfahrungen gemacht, ausserdem ist das so voel- lig irrelevant (moechte man meinen!). Es gibt auch groessere Beispiele, da wird's aber gleich viel komplexer. Vom Guten bin ich weit entfernt. So gesehen bin ich dann doch nicht so naiv. Die gesellschaftliche Praegung verhindert mein naives Ich-Sein ... meine ich-seiende Naivitaet. Das ist nicht das Gute. An so vielen Stellen spuere ich Grenzen in die mich die Welt um mich sperrt. Anpassung schafft kein Glueck, hoechstens einen erlernten Schein von Glueck ... eine Fata Morgana. ... nothing left to lose Die Kosten des Verlierbaren, unter denen leidet man. Sich vom Verlierbaren zu loesen schuetzt gewissermassen. Kann man das nicht, dann leidet man unter dem Zwang der verhindert, dass man die Freiheit besitzt, sich nach Belieben zu verhalten. Zu gross ist die Sorge um die Kosten. Tja! Keine Ahnung was aus dem Nagellack werden wird: nur noch im Winter oder nur im Urlaub? Und die ganzen anderen Kollisionen mit den gesellschaftlichen Grenzen! Leiden andere eigentlich auch unter sowas? Oder nehmen sie es nur nicht bewusst wahr? Es ist schade, weil alles so viel schoener sein koennte. ... oder ist das wieder naiv? http://marmaro.de/apov/ markus schnalke