2020-01-20 gesellschaftsanalyse Menschmodell, Weltmodell Feuerland-Biber Wie verstehen wir den Menschen? Wie die Welt? Die Basis unseres Verstaendnisses ist unser inneres Modell der Dinge. Dieses Modell erlaubt bestimmte Wahrnehmungen und verhin- dert andere. Man kann auch verschiedene Modelle gleichzeitig ha- ben, die man in unterschiedlichen Zusammenhaengen anwendet, beispielsweise das Teilchen- und das Welle-Modell beim Licht. Je naeher das Modell an der Realitaet ist, desto besser unser Ver- staendnis eben der Realitaet, desto komplexer wird das Modell oftmals leider auch, aber nicht immer. Diese Modelle sind unser tatsaechliches Verstaendniswissen. Uns muss bewusst sein, dass sie immer eine Vereinfachung sind. Uns muss bewusst sein, dass sie nicht die Realitaet sondern nur ein (vereinfachtes oder verfaelschtes) Abbild von ihr sind. Uns muss bewusst sein, dass sich die Modelle aendern, (hoffentlich) besser werden, wenn man sich die Unstimmigkeiten zwischen ihnen und der tatsaechlichen Realitaet genau anschaut. Keines der Modelle, die wir jetzt haben, ist perfekt in der Weise, dass es der Realitaet entsprechen wuerde. Jedes ist nur gerade gut genug, oder eben gerade so gut wie es uns derzeit moeglich ist. In diesem Sinne ist alles was wir in der Schule und im Studium lernen nur ein aktuell vorherrschendes Modell, nicht aber die tatsaechliche Realitaet. Wir muessen uns daran gewoehnen, dass unser Wissen nur eine Annaeherung an die Realitaet ist, die durch bessere (und vermutlich komplexere) Annaeherungen ersetzt werden wird. Wir hatten mal ein geozentrisches Weltbild. Dann das heliozen- trische Weltbild. Dann wurden aus Kreisbahnen Ellipsen ... usw. Unser Verstaendnis aendert sich! Nun stelle man sich einen Flug zum Mars auf Basis eines geozen- trischen Weltbildes vor! Das Unternehmen muesste in einer Katas- trophe enden. Derartiges ist in der Geschichte oft genug pas- siert. Die Einfuhr von kanadischen Bibern nach Feuerland zur Pelzproduktion ist genau so ein Fall. Das Verstaendnismodell der oekologsichen Zusammenhaenge war viel zu primitiv. Das wurde (schmerzlich) ersichtlich, als die Folgen nicht diejenigen waren, die sich nach dem Modell haetten ergeben muessen, sondern voellig andere. Manche dieser Modelle ueberdauern lange Zeit und sind weit ver- breitet. Massentraegheit, Massenanziehung und Energieerhaltung sind sicherlich Beispiele dafuer. Andere sind in flux, unter- schiedliche Menschen haben unterschiedliche Modelle, die sich auch in kuerzeren Zeiten aendern. Beispiele hierfuer waeren wohl die Klimaerwaermung, Microplastik, Geschlecht, Gender und Sexual- itaet. Diese Modelle werden zunehmend besser (wenn auch nicht in jedem Fall kontinuierlich), aber verschiedene Menschen nutzen zu einem Zeitpunkt unterschiedliche. (Eigentlich sollten Fachdiskussionen mit einem Verstaendnismodel- labgleich beginnen. Wenn es dort naemlich Differenzen gibt, kann man sich die darauf basierende inhaltliche Diskussion meist sparen. Man stelle ich nur wieder eine Diskussion zwischen einem Geozentriker und einem Heliozentriker vor um die Phasen der in- neren und die Oppositionsschleifen der aeusseren Planeten zu erk- laeren. Sie kann nicht fruchtbar sein. Idiotischerweise ist es absolut ueblich die Basis des Modellabgleichs zu ueberspringen und sich dann in hoffnungslosen und unerquicklichen Fachdiskus- sionen festzufahren.) Betrachten wir ein interessantes Modell: den Menschen. Victor Frankenstein setzt Koerperteile zusammen, haucht einen Le- bensfunken ein und seine Kreatur funktioniert. Denken und Gefuehle mal aussen vor, so ist der menschliche Koerper ein Ap- paratus, der aus allerlei verbundenen Funktionseinheiten (Organe) besteht. Mit dem noetigen Input zum Betrieb des Apparatus (u.a. Nahrung) und Steuerbefehlen (vom Gehirn) wird ein Output erzeugt. Ich denke, dass dieses einfache Modell eine weitverbreitete Aus- gangsbasis ist. Hier sind wir uns also weitgehend einig. Dieses Modell hat aber deutliche Abweichungen zur Realitaet. Auch wenn es vielleicht keine Fehler enthaelt, so hat es doch eklatante Auslassungen. Mary Shelleys Geschichte legt ein derartiges Modell zugrunde, fuegt nur noch einen magischen Lebensfunken hinzu ... und die Kreatur lebt. In der Realitaet funktioniert das nicht, denn das Modell ist zu primitiv. Ihm fehlt beispielsweise die Vorstellung von Lebenszyklus. Der Organismus, wie jedes seiner Organe und jede Zelle durchleben einen Zyklus, der von einer Jugend zum Alter und schliesslich zum Tod verlaeuft. Ein totes Organ kann nicht einfach zur ``Geburt'' eines Lebewesens verwendet werden. Es kann nur als altes Ersatzteil angesehen werden. Also eine Kreatur aus alten Ersatzteilen ... nicht unmoeglich, aber unwahrscheinlich dass sie lange laufen wird. Der Mensch als abgestimmtes System: Ein starkes Herz mit schwachen Gefaessen wuerde schnell Lecks erzeugen. Es muss alles aufeinander abgestimmt sein. Unser Erbgut enthaelt bereits eine grundsaetzlich abgestimmte Konfiguration. Weiter veraendert sie sich durch inkrementelles Training. Muskeln, Sehnen, Gelenke und Knochen entwickeln sich gemeinsam, vielleicht nicht mit den gleichen Dynamiken aber doch aehnlich. Herz und Lunge haengen ebenso zusammen, auch der ganze Verdauungstrakt. Eine komponen- tenweise Zerstueckelung des Menschen mag zwar teilweise funk- tionieren, hat aber Defizite. Diese Betrachtung ist ein Modell, das zwar in mancherlei Hinsicht hilfreich ist, aber auch zu fal- schen Schluessen fuehren kann, wenn man sich den defizitaeren Bereichen naehert. Ein Modell, das den Menschen als Gesamtsystem betrachtet ist realitaetsnaeher (aber auch komplizierter). Variabilitaet: Wieviel kann der Mensch leisten? Eine Liter- Flasche zu heben ist kein Problem. Sie hundertmal zu heben ist auch kein Problem ... wenn das ueber den Zeitraum eines Monats verteilt ist. Sie in einer Minute hundertmal zu haben ueberlastet den Arm vermutlich. Wenn man aber trainiert, kann man das ohne Ueberlastung schaffen. Diese Anpassbarkeit ist aber nicht beliebig. Wuerde man jahrelang Flaschenheben, dann wuerde das He- besystem doch einseitig abgenutzt werden. Man kann den Koerper trainieren, damit er mehr Gewicht heben kann oder bei gleicher Menge weniger angestrengt wird. Der Koerper kann auch Ueberlastungen wegstecken, solange sie nur sporadisch passieren und nicht zu schlimm sind. Der Koerper-Apparatus geht schneller kaputt wenn er stark ueberlastet wird, dauerhaft am Limit laeuft oder einseitig belastet wird. Das ist das Modell einer Fehlertoleranz. Wenn der Koerper eine so und so grosse Fehlertoleranz hat, in jedem seiner Organe, dann wird von dieser mit jeder Ueberlastung etwas verbraucht. Wenn sie weg ist, ist die Komponente kaputt. Wenn es eine lebenswichtige Komponente war, stirbt man. Aber dies ist nicht statisch. Durch Training kann man manche Toleranzwerte erhoehen. Durch Erholung kann man manche Toleranzwerte wieder auffuellen. Manche Toleranzwerte sind aber wohl auch absolut fix. Wenn man bei ihnen zu viel angesammelt hat dann war's das. Die Regenerationskurven sind vermutlich nicht linear. Die Erho- lung von 80% auf 90% geht vielleicht sehr viel schneller (oder langsamer) als die von 20% auf 30%. Auch kann man sich vielleicht von 80% beliebig oft wieder auf 90% regenerieren, aber wenn man mal auf 20% ist, kommt man vielleicht in der Realitaet nicht wieder auf ueber 60%. Ob das so ist? Keine Ahnung. Aber sicherlich gibt es solche Ef- fekte und sie sollten deshalb im Modell enthalten sein. Oder anders gesagt: Solange sie nicht Teil des Modells sind, hat dieses Defizite in diesen Bereichen und wir stehen staendig in der Gefahr, dass es uns so geht wie den Pelzhaendlern (oder wie dem dortigen Oekosystem) als sie die kanadischen Biber nach Feuerland eingefuehrt haben. Nun zum Weltmodell. Wie komplex ist unser Modell der Umwelt? Also das Modell jedes einzelnen von uns. Wie komplex ist das Modell eines Gewaesser- kundlers, eines Geologen, eines Meteorologen, eines Botanikers, eines Klimaforschers? Wie komplex ist das Modell das sie gemein- sam entwerfen koennten? Wie komplex ist das Modell von Politikern? von Lobbyisten? Wie weit sind all diese Modelle von der tatsaechlichen Realitaet entfernt? Wieviel Raum fuer Feuerland-Biber-Faelle laesst das of- fen? Der Club of Rome, als Thinktank aus internationalen Experten vieler Bereiche, hat Anfang der Siebziger Jahre sein Werk ``The Limits to Growth'' erstellt, dessen Kernstueck ein Weltmodell darstellt (das dann parametrisiert durchgerechnet worden ist, um Prognosen und Zeitverlaeufe zu erzeugen). Wenn man es sich an- schaut, so ist es -- aus der Perspektive dieses Artikels -- erschreckend klein. Wieviel Weltrealitaet ist dort unberuecksi- chtigt! Wieviele Feuerland-Biber-Faelle werden dadurch erzeugt werden! Und nun schauen wir uns die Klimaerwaermung an, oder das Micro- plastikproblem ... ... und werden hoffentlich etwas demuetig, angesichts un- seres riesigen Nichtwissens. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke