2018-02-25 herz und hirn Dahinvegetieren Auf der Schreibmaschine unterwegs klaeglich, unter elenden Umstaenden ziellos vor sich hin leben [0] Ziellos und klaeglich treffen genau zu. Die Umstaende koennten dagegen weit elender sein. Trotzdem, das macht die Sache nicht besser. Sie war seit ihrer Heirat furchtbar traege geworden. Frueher hatte sie nicht nur einen Haushalt, sondern auch den erfolgreichsten Wollhandel der ganzen Grafs- chaft gefuehrt -- mittlerweise wuchs ihr schon [der] Haushalt ueber den Kopf, obwohl sie sonst gar nichts mehr zu tun hatte. Eine Zeitlang lag sie still da, tat sich selber leid und waere am liebsten eingeschlafen. [1] Die Faehigkeit, Dinge geschafft zu kriegen, ist in hoher Weise stimmungsabhaengig. Meine Produktivitaet hat eine enorme Band- breite. An manchen Tagen schaffe ich die Arbeit einer Woche, waehrend ich an anderen ueberhaupt gar nichts zustande kriege. Heute ist ein Tag der zweiten Sorte: Ich haenge nur herum, un- faehig in irgendeiner Weise konstruktiv zu sein. Das ist schlimm. Es ist deprimierend, wie meine sonst oft spruehende Energie wie weggeblasen ist. Ich bin energielos, ziellos, sinnlos ... Die Umstaende sind allerdings eigentlich gar nicht elend. Die Welt steht mir vielmehr offen. Die Wohnung ist aufgeraeumt, die Waesche ist gewaschen, doe Vorratsschraenke sind voll ... ich habe Zeit! -- Eine gruene Wiese auf der gebaut werden koennte. Man muesste es nur tun. Aber da stehe ich, ohne Energie. Die Plaene habe ich oft genug gemacht. Es ist alles bereit, ich muss nur loslegen, aber genau das ist mir nicht moeglich. Ich stehe da, schaue mir das alles an und fuehle mich durch die Situation erst recht belastet. Ist das der Zeitpunkt, wo man Urlaub braucht? Dabei habe ich diesen quasi gerade. Wieviel mehr Urlaub bedarf es denn? Muss ich erst eine Woche so sehr gammeln, dass ich mich anschliessend liebend gern auf alles werfe, was nach Arbeit aussieht? Oder muss ich zwangslaeufig den Ort wechseln? Muss ich in die Ferne reisen, um zu mir zu finden? Und damit meine ich eine geografische Ferne und nicht nur ein Buch oder ein Computerspiel. Ist das noetig? Nein, in Wirklichkeit ist etwas anderes noetig: Es braucht Gemeinschaft, Vertrautheit, Wertschaetzung, Anteilnahme und der- gleichen. Es bedarf eines Ausgleiches, einer zweiten, einer glaettenden Kraft. Ich habe sowohl zu viel als auch zu wenig, je nach Moment von einem oder von anderem. Und manches Gut fehlt mir, weil es sich nicht erzeugen laesst, sondern nur in bes- timmten Situationen entstehen kann, dir mir derzeit nicht vor- liegen. Ich habe heute schon gelesen (in einem Buch, das mir meine Situa- tion nur noch verdeutlicht, auch wenn es gleichfalls schoen ist, mich am Glueck der Protagonisten zu erfreuen (und ich wiederum unter der ihnen angetanen Ungerechtigkeit leide)). Ich habe eine Menge rumgedaddelt, auch wenn das die schlimmste Art des (im wahrsten Sinne des Wortes) Zeitvertreibs ist. Ich habe zumindest fuer ein ordentliches Essen gesorgt -- immerhin das. Ich habe gewartet, dass etwas passiert. Oh, wie viel ich warte, dass etwas passiert! Das ist offensichtlich falsch! Und doch passiert es, weil nichts anderes moeglich ist. Dabei liegen die guten Taetig- keiten vor mir. Ich sehe sie da liegen, doch ich ergreife sie nicht. Ich schaffe es nicht, das zu tun. Nein, ihre Anwesenheit bedrueckt mich vielmehr. Jeder Gedanke an diese, meine Unfaehig- keit, das zu tun was ich tun sollte, zieht mich nur runter, macht mir meine Unfaehigkeit bewusst. Immerhin, und darum bin ich froh, hat sich meine Unzufriedenheit mit der momentanen Situation so weit aufgestaut, dass ich nun da sitze und schreibe. Ich habe meine mechanische Schreibmaschine, die ich gestern Abend wieder auf Vordermann gebracht habe, aufgestellt, ein weisses Blatt eingespannt und begonnen zu tippen. Jetzt bin ich schon auf der dritten Seite, in meinen Ohren klingeln die Anschlaggeraeusche (Autoren mussten frueher wohl mit Gehoerschutz geschrieben ha- ben), auch meine Zeige- und Mittelfinger, die ich abwechsle, denn mit Zehn-Finger-Schreiben ist wenig los, lassen die Belastung spueren, dennoch: es tut mir gut. Langsam scheint sich etwas zu lockern ... Eigentlich schreibe ich schon viel lieber in Stille von Hand mit einem Stift auf Papier ... das ist die am wenigsten technische Art zu schreiben und damit fuer mich auch die langsamste und am meisten gefuehlvolle. Gerne wuerde ich eines Tages beim Nanowrimo [2] mitmachen. Ich finde dessen Idee so toll! Allerdings sehe ich nicht, wie ich einen Roman schreiben koennte. Ich kann lediglich von mir schreiben, von Gefuehlen, von Eindruecken, von Gedanken. Ich kann Details oder grosse Zusammenhaenge analysieren. Ich kann wissenschaftlich-technische Arbeiten verfassen. Aber die Vorstel- lung des Schreibens von Prosa, von Fantasiewelten -- dieser Vor- gang -- der beeindruckt mich doch sehr. Ich glaube nicht, dass ich es koennte, und ich werde es nicht lernen, weil es mir nicht wichtig genug ist, bzw. weil mir andere Dinge wichtiger sind und auch eher meinen Talenten entsprechen, aber das Schreiben an sich -- unabhaengig von den Inhalten -- das ist mir definitiv wichtig. Moeglicherweise sollte ich einfach deutlich mehr schreiben. Ro- binson hat in Ermangelung eines Vertrauten und gleichwertigen Gespraechspartners auch geschrieben: Zuerst mit Tinte ganz nor- mal, dann mit verduennter Tinte, weil seine Vorraete zur Neige gingen, und schliesslich mit fast nicht mehr lesbarer, stark verwaesserter Tinte. Was, wenn er kein Schreibmaterial gehabt haette? Haette er dies ertragen? Oder haette es ihn womoeglich sogar gut getan, nachdem er das unerfuellte Beduerfnis erst ue- berwunden haette? Haette ihm das eine Last genommen, weil er schlichtweg keine Moeglichkeit gehabt haette, etwas zu ueber- liefern? Waere er dann erst tatsaechlich in seinem Hier und Jetzt angekommen? Love it; change it; leave it -- so wahr, dass ich versucht bin, die Wahrheit aufgrund der ihr innewohnenden Eigenverantwortung zu hassen. Das Leben ist eben nicht einfach -- moderne Welt hin oder her. Vielleicht ist es fuer manche etwas einfacher als fuer an- dere, aber es ist doch stets eine Herausforderung ... man kann bloss das Glueck haben, dass vieles ``von alleine'' gut laeuft. Ja, Glueck kann man haben. Vielleicht kann man sich auch dafuer entscheiden, dass einem alles ausser dem Vergnuegen egal ist und sich so in eine schoene neue Welt begeben, in der man die Kon- trolle abgeben kann ... falls man das kann. Die meisten werden aber kaempfen muessen, mit der Welt oder mit sich selbst. Ich werde eine neues Farbband fuer meine Schreibmaschine kaufen muessen. Wo bekommt man sowas heutzutage noch her? Am besten ich kaufe gleich auf Vorrat, nicht dass es mir geht wie Robinson. Schon jetzt sind die Lettern eher grau als leutchtend schwarz. Man gewoehnt sich ja daran. Erst mit einem neuen Band merkt man wie weit die Gewoehnung die Ansprueche gesenkt hat. Man war schon froh, wenn der Buchstabe vollstaendig abgedruckt wurde ... Gewoehnung ist schlimm, denn sie laesst einen vergessen, dass eine Schieflage vorliegt, obgleich man unbewusst trotzdem unter ihr leidet. Ich habe nie Kerouac gelesen, trotzdem komme ich mir ein bisschen vor wie er. Natuerlich mache ich viel zu viele Absaetze, und ich habe auch keine Nacht durchgetippt. Ich hacke erst eine Weile auf der Maschine rum. Irgendwie war ich dabei aber On the Road ... unterwegs. Ob gut oder schlecht ... ich weiss es nicht --, aber ich war unterwegs. Jetzt bin ich wieder da. Was passiert jetzt? Das ist die entscheidende Frage! Davon haengt ab, ob dieser Aus- flug wertvoll oder vergeudet war, ob er ein verrueckter Trip oder ein Hilfsmittel war. ... ob es mein letzter oder mein erster war. Aber hat sich denn ueberhaupt etwas geaendert? Immerhin: I got blisters on my fingers! [0] https://de.wiktionary.org/wiki/dahinvegetieren [1] Ken Follett: Die Saeulen der Erde, S. 780 [2] http://nanowrimo.org http://marmaro.de/apov/ markus schnalke