2016-09-22 digital life Die Transferleistung Klassiker lesen! Ich lese gerade ein Computerbuch von 1971. Das tue ich aber nicht aus geschichtlichem Interesse. Trotz dem es dort um Lochkarten, Cobol und Fortran geht, lese ich das Buch wegen seiner Aktuali- taet. Dieser scheinbare Widerspruch loest sich auf, wenn man die Transferleistung ins Spiel bringt. Ich denke, dass Transferleis- tungen zu schaffen eine wichtige Faehigkeit ist. Dieses Buch, das ich gerade lese -- ``The Psychology of Computer Programming'' von Weinberg -- ist 45 (!) Jahre alt, dennoch ist die Aussage hinter der Oberflaeche heute vollkommen aktuell. Ich wuerde sogar sagen, dass sie erst jetzt, mit der Agilen Software-Entwicklung, auch im Mainstream angekommen ist. Vor 45 Jahren konnte man das alles auch schon lesen, bloss verstanden haben es da nur wenige. Da erwaehnte Buch gehoert, neben Brooks' ``The Mythical Man- Month'' und Knuth's ``The Art of Computer Programming'' zu den meistreferenzierten Werken in der Computerliteratur, die ich kenne. Bloss: Wer hat es schon gelesen? Knuth's Epos haben auch wenige gelesen, aber die meisten haben zumindest eine grobe Vorstellung davon. Bei Weinberg kommt es mir so vor, als ob niemand etwas ueber sein Buch weiss ... wie wenn es komplett im Schatten leben wuerde, trotzdem es so oft referenziert ist. Dabei ist das Buch eine Perle ... die man erkennen kann, wenn man eben zur Transferleistung faehig ist. Dass Weinberg ueber Loch- karten schreibt ist voellig irrelevant. Sie sind nur ein Beispiel aus seiner Zeit. Man muss ``nur'' verstehen wie das damals mit den Lochkarten war, dann kann man sie ``einfach'' durch ein geeignetes Konstrukt aus unserer Zeit ersetzen. Das genau ist die Transferleistung: Verstehen und Ersetzen. Viele neue Buecher werden geschrieben, weil die Autoren diese Transferleistung fuer die Leser abnehmen wollen (sei es bewusst oder in Unkenntnis der Originalwerke). Allerdings kenne ich kein Buch, das diese bestechende Klarheit von Weinberg bieten koennte. Bei neuer Literatur ist das sowieso kaum zu erwarten, aber selbst Kernighan und Co. muessen sich hier an einem Meister messen. Das alles bestaerkt mich in dem Gedanken, dass es gut moeglich sinnvoller waere, einem Informatikstudenten nichts als eine Auswahl von zwanzig erstklassigen alten Computerbuechern zu geben und ihn diese dann mit sehr viel Ruhe studieren zu lassen. Das wuerde die richtigen Grundlagen schaffen, davon bin ich ueber- zeugt. In den Literaturwissenschaften und fuers praktische Schreiben liest man auch Shakespeare; aus den gleichen Gruenden sollten Informatiker Knuth lesen. Und wie man Goethe, Schiller und Co. liest, so sollte man Brooks, Kernighan und Co. lesen ... und eben auch Weinberg. Wer die Klassiker -- die bedeutenden Werke der Geschichte -- nicht kennt, dem wird es am Erkennen mangeln, und was er sich selbst erarbeitet, das wird ein schwach- er Abklatsch des dort bereits Erkannten sein. Es ist viel einfacher das Alte zu verstehen und seine Aussage zu transferieren, als sie im Neuen zu formulieren und dabei nichts Wesentliches zu verlieren. Das Verstehen von Fremdem zu ueben ist sowieso immer eine gute Idee, denn auch im Jetzt ist es eine wichtige Grundfaehigkeit, (nicht nur) fuer Softwareentwickler. Es ist wichtig, Vorbehalte bei scheinbar Fremdem zu ueberwinden, sich auf es einzulassen und dann zu schaetzen, was man davon mit- nehmen kann. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke