2015-12-28 the real world Fantasie braucht Raum Fremdsprachiges Lesen und Star Wars Vor wenigen Jahren habe ich im Ausland, mangels deutschsprachiger Buecher, begonnen auch Romane auf Englisch zu lesen. Computer- buecher lese ich seit mehreren Jahren lieber auf Englisch, weil ich mir dann die Rueckuebersetzung von beispielsweise ``Feld'' zu ``Array'' spare. Wenngleich ich Informatik-Literatur lieber auf Englisch lese, war es bei den Romanen nur eine Notloesung. ``Nineteen Eighty-four'' von Orwell konnte ich mir dann aber, nach seiner Lektuere auf Englisch, nicht angemessen uebersetzt vorstellen. Dies hat dazu gefuehrt, dass ich manche Buecher nun lieber auf Englisch lesen will. In erster Linie betrifft das en- glischsprachige Klassiker. ``To Kill a Mockingbird'' war ein solcher. Der Slang erforderte zwar einige Eingewoehnung, dann klappte es sprachlich aber gut. ``Neuromancer'' dagegen war eine Katastrophe: Dank der sprachlichen Barriere verstand ich noch weniger von den konfusen Inhalten. Das haette ich lieber auf Deutsch lesen sollen. Bei Stephen King muss man sich wiederum keine Sorgen machen: Er besticht durch einfache Sprache. Waehrend ich bei englischer Computerliteratur keinen Informa- tionsverlust erleide, verstehe ich bei englischsprachigen Romanen nicht alles. Mein Englisch ist ordentlich aber stark EDV- und Wissenschafts-fokusiert. Wenn ich heute einen englischen Roman lese, dann verstehe ich etwa soviel wie ein Dreizehnjaehriger von einem Erwachsenenroman: Je nach Autor liegt das irgendwo zwischen `fast allem' und `fast allem Wichtigen'. Details und Bedeutungsnuancen bleiben aber in der Regel auf der Strecke. In den letzten Monaten habe ich beobachtet, wie ich auch mal gerne in der englischsprachigen Ecke der Bahnhofsbuchhandlungen stoeberte und dann auch einkaufte. Das waren weder gezielte Ein- kaeufe, noch nahm ich Klassiker mir, die unuebersetzt besser erschienen. Es waren vielmehr ganz normale Romane, fuer die es keinen Grund gab, sie auf Englisch zu lesen. Meine Motivation musste also allgemeinerer Natur sein. Erst spaeter kam ich darauf: Wenn ich auf Englisch lese, dann hat das zur Folge, dass nur der wichtige Grossteil der Information ankommt; viele Feinheiten aber gehen verloren. Genau das ist es, was ich suche. Mein Leseer- lebnis wird dadurch kindlicher. Als Kind verstand ich vieles noch nicht (und kannte es nicht anders); heute verstehe ich jedes Wort. Dadurch dass ich jedes Detail verstehe, wird mein Bild der Geschichte aber in eine festere Form gepresst. Diese Form ist zwar nicht so starr wie beim Film, aber doch weitgehend aus- gemalt. Mein eigener Gestaltungsraum schrumpft dabei. Meine Fan- tasie wird dadurch begrenzt, sie kann weniger Freiraeume ausges- talten. Ich empfinde das als Verlust, denn es ist ein passiverer Akt. Viel lieber will ich mir meine Gedankenwelten selber ausmalen. Vielleicht sind Kinder ja deshalb kreativer, weil es fuer sie normal ist, sich weite unverstaendliche Teile der Welt mit der eigenen Fantasie zu fuellen. Je mehr wir aber von dem um uns herum verstehen, desto weniger freier Raum fuer unsere Fantasie bleibt. Und vielleicht ist die Kreativitaet auch etwas An- strengendes, das man sich dann (unbewusst) gerne spart. (Und vielleicht entsteht auch dann erst diese Unsicherheit die wir empfinden, wenn wir mit fehlender Information konfrontiert sind.) Das Lesen englischer Romane bietet mir momentan einen Sprung in die Art von Leseerlebnis, das ich als Jugendlicher hatte. Wenn ich auch im Englischen einmal so weit fortgeschritten sein werde, dass ich alles verstehe, dann werde ich vielleicht die naechste Sprache angehen muessen. Aehnlich erging es mir, als ich heute den originalen Star-Wars- Film von 1977 (in der modernisierten Fassung) von DVD auf einem modernen Grossbildfernseher gesehen habe. Welch anderes Erlebnis das war, im Vergleich zu der Erinnerung an die alte Kinofassung von VHS auf einem Roehrenfernseher! All diese Details! C3PO in der Wueste: der abblaetternde Lack, als einpraegsamstes Beispiel. Oder die Grossaufnahmen der Gesichter ... Aber war es auch besser? Ich sage Nein! All der Realismus -- dieses Gefuehl, direkt im Set zu stehe -- das schadet der Geschichte nur. Maerchen sollten fantastisch sein, nicht realis- tisch. Wieviel wirklicher kam mir die unscharfe Version von VHS doch vor! Wieviel mehr habe ich mich da in der Geschichte gefuehlt! Diese technischen Errungenschaften stehlen uns das Wichtigste: unsere Fantasie! Wir brauchen keine Details, wir brauchen Inter- praetationsraume, denn in ihnen gedeiht unsere Fantasie. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke