2015-07-27 gesellschaftsanalyse Unerwuenschter Fortschritt Keine Macht dem Establishment! Ist die Gesellschaft als Ganzes zu vernuenftigem Verhalten faehig? Oder ist sie so sehr in Ist-Zustand, Gruppendynamiken und andersartigen Interessen der Beteiligten gefangen, dass in ihrem Gesamtagieren keine freie Entscheidung mehr moeglich ist? Koennen grosse Gruppen also vielleicht gar nicht vernuenftig handeln, da ihre inneren Dynamiken das verhindern? Ich lese zur Zeit ``Why Nations Fail'' von Acemoglu und Robinson. (Der deutsche Titel ``Warum Nationen scheitern'' ist ja soviel weniger praegnant und eingaengig!) Dieses Buch ist wie die Beschaeftigung mit Edward Bernays: Man entfernt Schleier von seinem Blick auf die Welt. Die Betrachtungsposition ist dabei die des Club of Rome: von weit aussen mit klarem Blick auf das Ist, losgeloest von den ueblichen Gewissensberuhigungen. Die Aufar- beitung der Aussage erinnert aber an Charles Darwins Entstehung der Arten, in dem er seine Theorie immer nochmal und nochmal mit Beispielen und Begruendungen unterlegt, in der Hoffnung, dass die Kritiker und Unglaeubigen angesichts der schieren Masse an Fuer- Argumenten akzeptieren werden muessen. Das Buch beschaeftigt sich fast ausschliesslich mit dem Ist; kaum ein Wort wird in Richtung Zukunft verloren. Die Ausfuehrungen legen dabei eine Eigendynamik im Verhalten der Gesellschaften nahe, die mich die Eingangsfrage stellen laesst. Vielleicht wird dieser Eindruck nur durch den hohen Beobachtungspunkt hervor- gerufen ... wobei, diese Perspektive ist die passende, wenn man beurteilen will, ob die Menschheit ihre grossen Probleme ver- nuenftig angehen kann. Das ist ein wenig wie der Konflikt zwischen Teilchen und Welle beim Licht: Die Teilchen moegen sich noch so vernuenftig verhalten, wenn die Welle ein unvernuenftiges Verhalten zeigt, dann scheitert sie doch am Doppelspalt. Die Analyse der Teilchen ist ohne Belang, entscheidend ist nur das Verhalten der Welle am Doppelspalt. Hier frage ich mich eben, ob das, was Einzelne und Kleingruppen in den vergangenen Jahrhunder- ten gelernt haben, auch irgendwann im Agieren der Gesamtgesellschaften ankommt und wie lange das noch dauern wird. ... immerhin koennen schon fast alle Lesen und Schreiben ... und schlagen sich nicht bei *jeder* Gelegenheit die Koepfe ein. Aber aendert sich wirklich etwas? Acemoglu und Robinson erzaehlen fol- gende, anschauliche Geschichte, bei deren Lesen man sich heute, zurueckblickend, unweigerlich an den Kopf fasst: Im Jahr 1583 kehrte William Lee von seinem Studium an der Universitaet Cambridge zurueck, um Ortspfarrer in Calverton zu werden. Elisabeth I. (1558-1603) hatte kurz zuvor einen Erlass herausgegeben, dass jeder ihrer Untertanen stets eine gestrickte Kopfbedeckung zu tragen habe. Lee notierte, dass ``Stricker und Strick- erinnnen die Einzigen waren, die solche Kleidungsstuecke produzieren konnten, doch es dauerte so lange, den Gegenstand fertigzustellen. Ich dachte nach und beobachtete meine Mutter und meine Schwester, wie sie in der Abenddaemmerung dasassen und mit ihren Nadeln hantierten. Wenn Kleidungsstuecke mit zwei Nadeln und einem Faden gemacht wurden, konnten dann nicht auch mehrere Nadeln den Faden verarbeiten?'' Diese folgenschwere Ueberlegung fuehrte zur Mechan- isierung der Textilproduktion. Lee wurde besessen von der Vorstellung, eine Maschine zu erfinden, welche die Menschen von der endlosen Handstrickerei befreite. Er erinnerte sich: ``Ich vernachlaessigte meine Pflichten der Kirche und der Familie gegenueber. Der Gedanke an meine Maschine und ihre Anfertigung frass sich in mein Herz und mein Gehirn.'' Im Jahr 1589 war seine Strickmaschine, der ``Strumpfrahmen'', mit dem man auch Muetzen herstellen konnte, schliesslich fertig. Aufgeregt reiste er nach Londen und ersuchte um eine Audienz bei Elisabeth I., um ihr zu zeigen, wie nuetzlich die Maschine war. Ausserdem wollte er sie um ein Patent bitten, damit an- dere das Original nicht kopieren konnten. Er mietete ein Gebaeude, wo er die Maschine aufstellte, und liess sich von seinem oertlichen Parlamentsabgeordneten Richard Parkyns bei Henry Carey, Lord Hunsdon, einem Mitglied des Staatsrats, einfuehren. Carey bewog Koeni- gin Elisabeth, sich die Maschine anzusehen, doch ihre Reaktion war vernichtend. Sie weiterte sich, Lee ein Patent zu gewaehren, und erklaerte: ``Ihr habe Euch ein hohes Ziel gesteckt, Meister Lee. Bedenkt, was die Erfindung meinen armen Untertanen antun wuerde. Sie wuerde sie ganz gewiss in den Ruin treiben, ihrer Beschaeftigung berauben und zu Bettlern machen.'' Niedergeschmettert zog Lee nach Frankreich, um dort sein Glueck zu versuchen. Als er wiederum gescheitert war, kehrte er nach England zurueck und bat Jokob I. (1603-1625), Elisabeths Nachfolger, um ein Patent. Jakob I. wies ihn aus den gleichen Gruenden wie Elisa- beth ab. Beide fuerchteten, dass die Mechanisierung der Herstellung von Strickwaren destabilisierende poli- tische Folgen haben werde. Sie koenne Arbeitslosigkeit hervorrufen und damit die koenigliche Macht bedrohen. Der Strumpfrahmen war eine Innovation, die einen gewal- tigen Produktivitaetsanstieg verhiess, doch auch schoepferische Zerstoerung mit sich bringen wuerde. Die Reaktion auf Lees brilliante Erfindung kann als Illustration fuer eine Schluesselthese dieses Buches dienen. Die Furcht vor schoepferischer Zerstoerung ist der Hauptgrund dafuer, dass es zwischen der Neolith- ischen und der Industriellen Revolution keine nachhal- tige Verbesserung der Lebensstandards gab. Technische Innovationen verschaffen menschlichen Gesellschaften Wohlstand, aber sie bewirken auch, dass Altes durch Neues ersetzt wird und dass die wirtschaftlichen Privilegien und die politische Macht gewisser Personen dahinschwinden. Fuer ein nachhaltiges Wirtschaftswachtum benoetigen wir neue Ver- fahrensweisen, und zumeist werden sie von Aussenstehen- den wie Lee geschaffen. Durch sie mag die Gesellschaft als Ganzes zu Wohlstand gelangen, doch der Prozess der schoepferischen Zerstoerung bedroht diejenigen, welche ihren Lebensunterhalt bisher mit den alten Verfahren verdient haben, etwa die Handstricker, die durch Lees Erfindung arbeitslos geworden waeren. Noch ausschlaggebender ist jedoch, dass bedeutende In- novationen wie Lees Strickmaschine auch die politischen Machthaber bedrohen koennen. Letztlich war es nicht die Sorge um das Schicksal ihrer moeglicherweise arbeitslos werdenden Untertanen, die Elisabeth I. und Jakob I. veranlasste, Lee ein Patent zu verweigern, sondern ihre Furcht, Machtverluste hinnehmen zu muessen, denn die Leidtragenden der Innovation konnten politische Insta- bilitaet ausloesen und die Position des Monarchen gefaehrden. Wie wir am Beispiel der Ludditen gezeigt haben, ist es oft moeglich, den Widerstand von Ar- beitern, wie in diesem Fall den der Handstricker, zu brechen. Aber die Elite, besondern wenn sie ihre poli- tische Macht bedroht sieht, bildet ein starkes Hin- dernis fuer Innovationnen. Die Tatsache, dass sie viel durch schoepferische Zerstoerung zu verlieren hat, bedeutet nicht nur, dass sie keine Neuerungen ein- fuehren, sondern auch, dass sie ihnen aktiv Widerstand leisten wird. Folglich braucht die Gesellschaft zur Einfuehrung der radikalsten Innovationen Aussen- stehende, und diese sowie die von ihnen ausgeloeste schoepferische Zerstoerung muessen haeufig die Resistenz von mehreren Seiten, auch die von maechtigen Herrschern und Eliten, ueberwinden. [0] Ist die Situation heute aber anders? Ich behaupte, dass z.B. die Urheberrechtslage zur Zeit grossteils identisch ist, mit dem eben beschriebenen Irrsinn. Oder die Informationsnetze bezueglich Of- fenheit, Kontrolle, Zentralitaet und Anonymitaet. Dort versucht ebenso eine etablierte Machtelite mit dem Argument der poli- tischen Destabilisierung unbedingt die schoepferische Zerstoerung zu verhindern. Im Klartext: Die etablierten Machteliten ver- suchen unsere Gesellschaft am Fortschritt zu hindern. Das ist die Sachlage. Die Frage ist, was das fuer mich, bezogen auf die Poli- tik, bedeutet. Die naechste grosse Stufe der politischen Evolution wird die Selbstlosigkeit der Regierungen sein. Es werden dann nur noch Politiker akzeptiert werden, die sich ganz den Gemeininteressen hingeben und sich selbst aktiv ersetzbar zu machen bestrebt sind. Die unbedingte Forderung dessen wird die konsequente Reaktion auf dieses Problem sein: Vielleicht am wichtigsten war jedoch, dass der Macht- besitz in den meisten dieser Faelle enorme Vorteile mit sich brachte. Dadurch wurden skrupellose Maenner [...] angezogen, welche die Macht monopolisieren wollten, und dadurch kamen deren schlimmste Seiten zum Vorschein. [1] Im gleichen Zug werden sich die Politiker kein Agieren hinter dem Ruecken ihrer Buerger leisten koennen und somit z.B. Whistleblower als wichtige Komponente zur Bewahrung der Re- chtsstaatlichkeit begruessen, foerdern und schuetzen. In jedem Fall werden Verschleierungsversuche den endgueltigen politischen Tod bedeuten. Dies kann man sich momentan noch ebensowenig vorstellen, wie einst die Abschaffung der Leibeigenschaft oder die Gleichstellung der Frau vor dem Gesetz, und doch ist beides so gekommen. Und so wird auch dieser Schritt kommen muessen. Ich werde ihn nicht mehr erleben, aber die zukuenftigen Generationen werden bei ihrem Blick zurueck auf unsere Zeit ebenso den Kopf schuetteln, wie wir das heute tun wenn wir obige Geschichte von William Lee lesen. [0] Acemoglu und Robinson: Warum Nationen scheitern, S. 229 ff. [1] Acemoglu und Robinson: Warum Nationen scheitern, S. 432 http://marmaro.de/apov/ markus schnalke