2015-04-17 gesellschaftsanalyse Von mutiger Lehre Scheinbar bequeme Exaktheit Die exakten Wissenschaften sind ungemein bequem. D.h. man kann es sich sehr bequem machen. Eine Berechung ist entweder richtig oder falsch. Ein Computerprogramm erfuellt die Anforderungen oder nicht. In der Lehre wird die Korrektur und Bewertung einfach. Die Fehler sind klar, greifbar, unbestreitbar. Stimmt das Ergebnis und wurden keine Rechenfehler gemacht, dann vergibt der Korrektor die volle Punktzahl ... und macht es sich damit furchtbar ein- fach. Eine korrekte Loesung ist naemlich nicht automatisch auch eine gute Loesung. Wenn aber die Qualitaet nicht geschaetzt (und ihr Fehlen nicht kritisiert) wird, dann ist diese Wissenschaft nichts wert. Die exakten Wissenschaften sind nur so lange einfach, wie man die Qualitaet ignoriert. Sie zu ignorieren ist aber irrsinnig. Sie zu beruecksichtigen fuehrt jedoch dazu, dass man es sich nicht mehr einfach machen kann. Ploetzlich wird die Situation des Bewerters noch schwieriger als in den ``soft sciences''. Dort ist zumindest bekannt und anerkannt, dass Beurteilungen der Einschaetzung des Korrektors unterliegen. Aber ziehe mal fuer einen fehlerfreien mathematischen Beweis Punkte ab, ``nur'' weil er unnoetig kom- pliziert ist! Wenn man diese Punkte aber nicht abzieht, also zum Ausdruck bringt, dass die Loesung alle Erwartungen erfuellt, man also kein Streben nach eleganten Loesungen foerdert und fordert, dann macht man sich fuer die grobschlaechtigen (wenn auch korrekten) zu- kuenftigen Erzeugnisse seiner Schueler verantwortlich. Darum: Wem Qualitaet wichtig ist, der muss sie auch einfordern und der muss auch ihr Fehlen paedagogisch bestrafen. Dies ist in den exakten Wissenschaften deutlich unbequemer als in den vagen Disziplinen. Dass dies so unbequem ist, liegt nur daran, dass wir es uns bisher zu bequem gemacht haben. Jetzt der Sache ins Auge sehen zu muessen, faellt schwer. Gerade die Ra- tionalisten sollten sachlich begruendete Notwendigkeiten aber verstehen und folglich handeln. Die momentan verbreitete Lehrkultur beguenstigt Feiglinge, die sich hinter Lehrplaenen und sonstigen Vorgaben verstecken. Wie sollen solch unmuendige Personen zur Muendigkeit anleiten (wenn sie nicht sich selbst als Anti-Vorbild praesentieren)? Was ausser Muendigkeit soll aber die Basis einer aufgeklaerten Gesellschaft sein? So kann ich nur schlussfolgern, dass ``wir'' keine aufgeklaerte Gesellschaft anstreben. Die grossen Probleme der Menschheit sind allesamt Massenprobleme, will ich behaupten. Darunter faellt auch das Problem der Lehre. Sie leidet darunter, dass zu viele die Schule besuchen, dass zu viele studieren. Ich will das nicht aendern, ich stelle das nur fest. Die unguten Auswirkungen, die will ich aber aufzeigen und damit aendern. Der Lehrer als Charakterfigur ist am Aussterben. Lehrer- Schueler-Beziehungen werden immer schwaecher, unpersoenlicher, virtueller, nichtexistenter. Meister und ihre Schueler gibt es schon gar nicht mehr. Das hat alles auch seine guten Seiten, aber die Qualitaet geht dabei verloren. Es findet eine massive Ver- schiebung von der Qualitaet zur Quantitaet statt, vom Kern zu den Aeusserlichkeiten, vom Langfristigen zum Kurzfristigen. Ohne per- soenliche Ebene in der Lehrer-Schueler-Beziehung wird der Schu- eler zum Objekt, das vorgegebenen Anforderungen genuegen muss, die zum Schuljahresende evaluiert werden. Der langfristige Erfolg wird gar nicht mehr beruecksichtigt, dabei waere er das einzige Ziel! Wo die Lehrer Feiglinge sind, da machen sie auch ihre Schueler zu Feiglingen, und damit werden sie spaeter als Wissenschaftler Feiglinge sein, und letztlich greift das auf die ganze Gesellschaft ueber. Ich bin ein Schwarzmaler, aber sicher nicht unbegruendet. Wie bekannt sind uns Szenen wie die folgende! Allzu bekannt, fast gegenwaertig, ist uns der zweite Kommentar der Studentin ... Aber wie selten sind die Professoren dieser Qualitaet geworden! Von ihnen koennen wir am meisten lernen. Sie tun uns wirklich etwas Gutes, denn sie sind am langfristigen Erfolg interessiert. Prof: Hier gleitet Ihre Arbeit in Doxographie ab. Studentin: Was meinen Sie damit? Prof: Sie haben ledigleich Lehrmeinungen wiedergegeben. Und sich nicht wirklich mit dem Text auseinander gesetzt, den sie kommentieren sollten. Verstehen Sie was ich von Ihnen erwarte? Das ist natuerlich deutlich schwieriger, aber letztendlich auch viel befriedi- gender. Koennen Sie mir folgen? Das Ziel solcher Aufga- ben ist es, dass Sie lernen, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Studentin: Aber, ich hab doch nichts Falsches geschrieben. Prof: Zwischen Richtig und Falsch gibt es einen Raum fuer das Sichtbarwerden des Wirklichen. Ja? Das Erscheinen des Wirklichen ist der Alptraum der Wahrheit. Wenn man Ihren Kommentar liest, hat man den Eindruck, einem Chor zuzuhoeren, der falsch singt. Man applaudiert aus Hoeflichkeit, aber eigentlich koennte man ihn ebenso gut auspfeifen. [0] Vielleicht ist der Mut (sich seines eigenen Verstandes zu bedienen) die uns momentan am dringendsten notwendige Charak- tereigenschaft. [0] Alexandre Postel: Geloeschtes Leben (Hoerspiel des WDR), bei 02:30 Minuten. (Das Hoerspiel zeigt darueber hinaus ein leider viel zu wahres Bild unserer Gesellschaft.) http://marmaro.de/apov/ markus schnalke