2014-11-13 the real world Surreal Citizenfour Dieser Film ueber Edward Snowden hat mich in eine seltsame Stim- mung versetzt. Dabei hatte ich die Bedeutung dieser Enthuellungen durchaus schon zuvor erfasst, wenn ich auch nicht alle Einzelheiten kannte. Wie kann mich dieser Film da noch so stark bewegen? Das fuehlt sich alles so unwirklich an. Das ist genau wie mit dem Hunger in Afrika oder dem Analphabetismus oder wie Kriege in fer- nen Laendern: Fuer all das gibt es Beweise, man muss sie sich nur anschauen. Da ich davon aber keine direkten Auswirkungen auf mein Leben spuere, ist es moeglich, diese Realitaeten als unwirkliche Erscheinungen abzutun. Damit fallen sie in eine aehnliche Ka- tegorie wie die Geschichte um Karl Koch oder das Kennedy- Attentat: Ein paar Fakten in mitten nebuloeser Wolken, in denen Wirklichkeit und Zufall und Recht und Schuld verschwimmen. Das Problem dabei ist, dass die Diskussion verschoben wird. Es geht scheinbar nur darum, ob es ein politisches Attentat war, oder ob man in der Pflicht steht, den ``Schurkenstaaten'' entgegenzutreten, oder ob es notwendig ist, dass Geheimdienste fuer die Staatssicherheit Buerger ueberwachen. Gelaehmt durch solche Fragestellungen geht die wichtigere Frage unter: Entspricht es unserer Vorstellung eines gesunden Rechtsstaates, wenn er hinter dem Ruecken seiner Buerger agiert und sie anluegt? Oder muesste er nicht, sobald die Korruption und Manipulation entdeckt sind, zwangslaeufig das Vertrauen des Volkes und damit seine Macht und Existenzberechtigung verlieren? Aus der momentanen Gesellschaft, in der eine geheim- niskraemerische Regierung dem Volk keine Privatsphaere zugesteht, muss eine Gesellschaft werden, in der das Volk mit Privatsphaere der Regierung nur vollstaendige Transparenz zugesteht. Falls sich aber das Volk, aus welchen Gruenden auch immer, prak- tisch nicht vom korrupten Staat loesen kann, hat sich dann nicht der Staat (nicht in Form einer einzelnen Partei, sondern als Gesamtsystem) bereits eine Absolutherrschaft gesichert? Oder, und das waere eine zwar unerfreuliche aber notwendigerweise zu akzeptierende Situation, das Volk findet mehrheitlich diese Art von Korruption im Staat und Manipulation des Volkes durch den Staat (ebenso wie diese Art von Not, Leid und Ungerechtigkeit auf der Welt) fuer notwendig und in Ordnung. In diesem Fall ist aller Aufschrei sinnlos. Vergleiche mit Nazi-Deutschland sind schwierig, da sie uebermaes- sig polarisieren. Gerade das macht sie gleichzeitig wertvoll. Es herrscht die einhellige Meinung, dass man so einen Staat in Deutschland kein zweites Mal zulassen wuerde. Man meint, dass man aus der Geschichte soviel gelernt habe, dass man beim naechsten Mal fuer solche Katastrophen gewappnet sei und sie verhindern wuerde. Eigentlich meint man damit aber, dass man verhindern ko- enne, dass es nochmal genau gleich laeuft. Dies mag gutmoeglich stimmen. Nur ist das nicht der Punkt. Es laeuft nie ein zweites Mal gleich ab. Deswegen liegen die Probleme auch nicht in den Faellen, die so aehnlich ablaufen, denn die erkennt man wieder. Die kritischen Faelle sind diejenigen, die ganz anders ablaufen, jedoch im Kern (in abstrakter Form) das gleiche Muster aufweisen: Gesetzliche Ausnahmeregelungen (z.B. zur Terrorbekaempfung), eingeschraenkte Gewaltenteilung, Sichern des eigenen Staates gegen andere, Ueberwachung, negative Folgen fuer freie Meinung- saeusserung, Verbreitung von Angst, etc. Und so sollten wir uns auch im oh so achtsamen Deutschland fragen, ob wir die gefahrvollen Muster nur nicht erkennen wollen. Ich habe zumindest nicht das Gefuehl, dass mit angemessener Motivation und Energie auf die potenzielle (!) Gefahr reagiert werden wuerde. Und ich selbst? Wie hat sich mein Leben in Folge dieser auswir- kungsreichen Enthuellungen veraendert? Verschluessel ich nun 80% meiner Mails? Nutze ich Tor? Schreibe ich nun stattdessen von Hand auf Papier? Bekaempfe ich aktiv die Krankheiten des Systems? Wie waehle ich in dieser Demokratie? Wie bezeichnend es doch ist, dass ich im Kino sitze -- im Heim der fantastischen Welten -- und diesen Film anschaue, als waere er Fiktion. Surreal! ... Absurd! http://marmaro.de/apov/ markus schnalke