2020-10-10 the real world Verstehen erlaubt keine Abkuerzungen Nicht vom Himmel gefallen Verstehen bedeutet durchdrungen zu haben. Die Akzeptanz von Er- gebnissen ist kein Verstehen. Somit ist Verstehen zwangslaeufig zeitaufwaendig und muehsam. Man muss den ganzen Weg gehen. Meiner Meinung nach funktioniert es nicht am Ende einzusteigen. Man kann die Dinge dann schon auch tun und wiedergeben, aber ver- standen hat man sie nicht. Ein guter Weg zum Verstaendnis ist das Nachvollziehen der geschi- chtlichen Entwicklung. Umwege kann man auslassen, aber keine Entwicklungsschritte ueberspringen. Nachvollziehen ist deutlich schneller und einfacher als selber erarbeiten, jedoch bringt es weniger Verstaendnis. Oft sind es gerade die Umwege -- die ganzen Fehler entlang des Wegs -- die viel Verstaendnis bringen. Verschiedene Beispiele: Viele Jahre habe ich mich mit Softwarelizenzen befasst. Die Copyleft-Frage hat mich immer wieder geplagt. Ich bin hin und her gependelt. Dabei habe ich letztlich alle Stroemungen mal eingenommen, alle geschichtlich gefuehrten Diskussionen auch gefuehrt. Ich habe den historischen Kontext der Lizenzentwick- lungen nachvollzogen und so die Motivation hinter jedem Schritt erkennen koennen. Die Toleranz der Intoleranz ist noch so eine Frage an der ich dran bin. Mit der bin ich zwar schon einige Schritte weit gekom- men aber noch nicht weit genug. Mit ihr beschaeftige ich mich nicht so gezielt. Mein Weg fuehrt langsam durch alle Seiten durch, ich probiere es so und so, lasse mich auf eine Betrachtung ein, baue sie aus, nehme sie ein, verteidige sie, stoere mich an ihren Schwaechen, versuche es anders ... und der gleiche Ablauf beginnt von vorn. Dabei wird mein Verstaendnis des Themas zunehmend besser. Nach und nach kann ich wirklich Aussagen machen und Entscheidungen treffen. Etwas technischer: Die Tonuebertragung. Digitale Tondateien sind viel zu komplex um direkt verstanden werden zu koennen. Es ist noetig zuerst die ganzen Grundlagen und die technischen Vorformen zu verstehen. Es hat ja einen Grund warum Schallplatten vor MP3s erfunden worden sind: Sie sind viel einfacher. Trotzdem haben sie schon allerlei spannende Fragestellungen: Wie unterstuetzt man Mono und Stereo gleichzeitig bei einer Schallplatte? Wie leicht oder schwer darf ein Tonabnehmerarm sein und warum? Gleiche Frage zum Plattenteller. Wo auf der Platte platziert man das wichtigste Stueck? (Bei Schallplatten ist das -- aha! -- naemlich relevant.) Warum laufen Singles mit 45rpm? Warum heissen LPs ``LPs''? Das alles ist nicht vom Himmel gefallen, sondern es hat Gruende. Diese Gruende sind der Kern des Verstaendnisses. Warum UKW und nicht Langwelle? Was bedeuten FM und AM? Wie verhaelt es sich mit verschiedenen Arten von Kassettenbaendern? Wie unterscheiden sich gepresste und gebrannte CDs? Sind CDs di- gital oder analog? Gibt es digitale Kassetten? Was ist mit digi- talen Schallplatten? Wie funktionieren A/D- und D/A-Wandler? Was ist Sampling? Wie funktioniert das Wave-Format? Auf welche Weisen kann man komprimieren? In welcher Weise ist die MP3-Kompression besonders? Wie viele Technologien muss man beherrschen, um eine MP3-Datei abspielen zu koennen? Kannst du jede davon erklaeren? Oder beim Auto: Auf welcher Seite des Getriebes sitzt denn die Kupplung? Verteilt sich das Motorenoel weiterhin im Getriebe wenn der Motor im Leerlauf ist? Was ist Zwischengas bzw. wie funk- tioniert ein synchronisiertes Getriebe? Ist es leichter einen Ein-Zylinder-Motor oder einen Vier-Zylinder-Motor anzukurbeln? Laufen drei oder fuenf Zylinder unrund bei einem Vier-Takter? Oder beim Backen: Warum ist in so vielen Backwaren Ei? Welche Funktion nimmt das Ei ein? Ist das Eigelb oder das Eiweiss relevant? Wie unterscheiden sich Roggen- und Weizenmehl? Warum ist Hafer im Muesli aber nicht im Brot? Welche Arten von Kuchen- teig gibt es und was sind die Unterschiede? Wie sind ihre Funk- tionsweisen? Verstaendnis ist ein langer Weg, der das Erkunden einer Landschaft zum Inhalt hat. Einen Zielort zu erreichen sagt wenig ueber die Ortskenntnis aus. Mit dem MP3-Zug faehrt man durch viele Laender, ohne sie zu kennen. Oft ja sogar ohne sich ihrer bewusst zu sein. Aber wenn sie nicht funktionieren erreicht man das Ziel nicht. Wie ein ortsunkundiger Tourist ist man dann hil- flos. Gleichermassen ist dies der Fall bei Diskussionen wenn man nur eine Meinung hat aber kein Verstaendnis. ... wenn man sich die Meinung nicht auf Basis von Verstaendnis selber gebildet hat. Wenn einem dann der Boden unter den Fuessen weggezogen wird, faellt man ins Leere. Anders wenn man ortskundig ist: Wenn eine Bruecke eingestuerzt oder ein Weg versperrt ist nimmt man einfach einen anderen zum gleichen Ziel. Die Faehigkeit dazu entsteht aber nur auf dem zeitaufwaendigen Weg des Verstehens, der keine Abkuerzungen zulaesst. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke