2019-08-26 the real world Das hoehere Ziel Schilderinflation Eine uebersichtliche, gut ausgebaute Landstrasse. Von weitem schon sieht man den Zufahrtsweg von rechts. Diesen kann man, auch aus der Ferne schon, mehrere hundert Meter weit einsehen. Alles ueberschaubar, klar und vorhersagbar. Wenn man sich der Einfahrt naehert, kommt ein Tempobegrenzungsschild auf 70, dann eines auf 50 -- Baustellenausfahrt. Ja, es ist der Zufahrtsweg zu einer Dauerbaustelle. Regelmaessig fahren hier Lastwagen rein und raus. Am Sonntagmorgen aber nicht. Es ist kein anderes Gefaehrt auf der Strasse; ringsum alles still, unbewegt, leer. Die Stelle ist auf offener, uebersichtlicher Strecke. Die Geschwindigkeitsbegren- zung umfasst nur das Stueck bei der Einfahrt. Man sieht das En- deschild schon bevor man reingefahren ist ... Ich kenne nieman- den, der dort 50 faehrt. Sie tun es nicht, weil sie denken. Auch nach einigen Vorbeifahrten und viel Nachdenken, habe ich noch keinen Grund gefunden, der diese Beschilderung sinnhaft macht. Es ist keine an sich gefaehrliche Stelle, warum also 50? Geht es um eine moeglicherweise verschmutze Fahrbahn? Dann waere ein Gefahrenschild mit dem Hinweis ``Baustellenausfahrt'' passend. Dieses koennte dann auch am Sonntagmorgen, nach einer Woche guten Wetters, auf leerer Strasse nach einem Blick schnell abgehakt werden, genau wie ein ``Vorsicht Schneeglaette''-Schild im Sommer. Oder geht es um langsame LKWs? An gefaehrlich unuebersichtlicher Stelle waere die Tempobegrenzung angebracht, aber doch nicht wenn man die Gesamtsituation bereits einige hundert Meter vorher kom- plett ueberblicken kann. Warnschilder waeren angemessen, Verbote sind es nicht. Verbotsschilder lassen dem Fahrer keinen Handlungsspielraum, der in dieser Situation aber noetig waere. Er ist besonders auch deshalb noetig, weil die temporaeren Schilder dort schon viele Monate stehen, sie aber, obwohl am Wochenende dort nicht gear- beitet wird, nicht weggedreht werden. (Diese Faulheit kann ich verstehen.) Kurzum: Dieser Beschilderung fehlt die Sinnhaftigkeit und dieser fehlende Sinn ist offensichtlich. Das ist gefaehrlich! Es ist in der gleichen Weise gefaehrlich, wie Personen, die bei jeder Kleinigkeit gleich in Panik ausbrechen. Wenn man immer wieder feststellt, dass die Gruende fuer die Panikreaktion un- bedeutend waren, dann wird man die Bewertung eines solchen Panikverhaltens herabstufen. Liegt dann aber tatsaechlich mal eine Katastrophe vor, wird man die Panikreaktion ebenso ger- ingwerten. Oder wie die ``Bist du dir sicher?''-Sicherheitsabfragen bei Win- dows. Weil man die fuer jede Kleinigkeit praesentiert bekommt, liest man sie gar nicht mehr richtig, sondern klickt nur noch in- stinktiv ... auch dann wenn mal eine wirklich kritische Frage gestellt wird. So auch bei den Verkehrsschildern: Wenn man immer wieder erleben muss, dass Beschilderungen auch nach genauer Analyse an Sinn missen lassen, dann wird man anfangen sie regelmaessig und grundsaetzlich zu hinterfragen. Da das Hinterfragen anstrengend ist, wird man es bleiben lassen und Verbotsschilder zunehmend wie Achtungsschilder ansehen. An tatsaechlich nicht absehbar gefaehrlichen Stellen wird das Verbotsschild dann seine Wirkung nicht mehr entfalten. Dies ist ein inflationaerer Prozess: Wenn man die Werte der Schilder nicht pflegt, dann werden sie immer weniger Wert. Fol- glich muss man immer hoeherwertigere neu einfuehren. Dann kommen Verdopplungen, groessere Schilder, Signalfarben, Geblinke, bald vielleicht sogar Getute ... Wir werden dadurch abgestumpft. Das alles waere nicht noetig, wenn man nur die Inflation aktiv niedrig halten wuerde. (Sich im Uebrigen auf den Standpunkt zu stellen, dass Ver- botsschilder einzuhalten seien, egal ob sinnhaft oder nicht, halte ich fuer eine weltfremde und damit zum Versagen verdammte Haltung.) Interessanterweise haben wir eine zunehmende Tendenz der Ueber- beschilderung, die (von dem Problem der Begrenztheit zu einem Zeitpunkt aufnehmbarer und verarbeitbarer Information mal abgesehen, auch) einer Entmuendigung der Verkehrsteilnehmer gleich kommt. Wo frueher auf Sachverhalte hingewiesen worden ist (wie z.B. eine Baustelle, eine gefaehrliche Einfahrt oder eine enge und kurvige Strasse) und die Fahrer selber zu bewerten und entscheiden hatten, was die angemessene Fahrreaktion darauf ist, wird einem heute dieser Denkprozess vielfach abgenommen, indem direkt die Fahrauswirkungen (z.B. Geschwindigkeitsbegrenzungen) angegeben werden. Man muss damit weniger selber denken und bewer- ten ... und laesst es dann auch. Was zunaechst mehr Sicherheit suggeriert, weil die Fahrer ja nicht mehr falsch bewerten koen- nen, fuehrt tatsaechlich aber zu weniger Sicherheit, weil sie weniger selber bewerten und sich zunehmend auf scheinbar sicher fahrbare Geschwindigkeiten verlassen, ohne die vielen anderen Faktoren einzubeziehen. Wenn man den Menschen das Selberdenken abnimmt, dann geben sie es gerne her. Sie verlernen es dann auch und werden von der Hilfestellung abhaengig. Gleichzeitig fuehrt eine oft genug anzutreffende Schlechtbeschil- derung auch zu einer Infragestellung aller Beschilderung. Statt dass sich die Fahrer den Schildern unterordnen, ordnen sie sich gar nicht mehr unter, sondern bewerten nur noch selbst. Dann hal- ten sie sich nicht mehr an Verkehrsregeln aus dem Grund weil sie ihnen helfen unfallfrei zu fahren (was jeder anstreben wird), sondern nur noch weil sie Strafen fuerchten. Das ist die schlechteste Motivation. Sind wir dort schon angelangt? Sehen wir die Verkehrsbeschil- derung schon gar nicht mehr als ein wertvolles Hilfsmittel -- von einer faehigen Expertenstelle dankenswerterweise bereitgestellt -- das unfallfreies und kooperatives Fahren erleichtert? Das hoehere Ziel! Nichts ist wichtiger als das hoehere Ziel! Egal wie korrekt De- tailentscheidungen auch an sich zu sein scheinen, wenn sie dem hoeheren Ziel abtraeglich sind dann sind sie falsch. Es bedarf des Verstaendnisses und des Blicks auf das grosse Ganze, weil sonst keine gute Arbeit moeglich ist. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke