2019-01-07 the real world Rokoko-Kapitelzusammenfassungen Mehrdimensionalitaet In der 1990 veroeffentlichten Geschichte ``Langoliers'' hat Stephen King etwas verwendet, das er in den Vorbemerkungen ``auf altmodische Rokoko-Weise ueberschriebene Kapitel'' nennt. Konkret bedeutet das, dass er am Kapitelanfang die Kapitelinhalt stichpunkthaft zusammenfasst. Kennengelernt habe ich das bei Charles Darwins ``Reise eines Naturforschers um die Welt''. Heute sind diese Stichwortzusammenfassungen durch Inhaltsverzeichnisse ersetzt worden ... zumindest in sachlichen Werken. Dass sie bei ``Langoliers'' in einem Roman auftauchen finde ich interessant. 1992 veroeffentlichte Stephen King ``Dolores''. Dieser Roman ist insofern besonders, dass er keinerlei Kapitel, Abschnitte oder auch nur Absaetze mit Durchschuss hat. Er besteht aus nur einem Textblock. So anstrengend das auch zu lesen ist (denn wo soll man das Buch bloss weglegen?), so interessant ist diese Form doch auch. Genremaessig bietet King eher wenig Abwechslung. Die Themen seiner Buecher bieten eine zu erwartende Vielfalt. Er kommt ue- berall mal vorbei. Schoen finde ich aber, wie er stilistisch variiert. Das zeigt eine Beschaeftigung, nicht nur mit den Inhal- ten, sondern auch mit dem Schreiben selbst. Talentiert schreiben zu koennen ist eine Sache ... die bei genauer Betrachtung aber an Tiefe und Mehrdimensionalitaet missen laesst. In einer Fernsehsendung vor vielen Jahren habe ich mal die Neben- bemerkung aufgeschnappt, dass John Miles sein Lied ``Music'' in nur 15 Minuten geschrieben habe. Diese Information steckt seither in meinen Gedanken fest. ``Music'' ist grandios. Es hat mich umgehauen, als ich es kennengelernt habe. Ueber die Jahre wird leider seine Eindimensionalitaet immer sichtbarer. Lieder von Bob Dylan oder Leonard Cohen sind das Gegenteil fuer mich. In ihnen gibt es immer noch eine weitere Dimension, weitere Bedeu- tungsschichten und Querbezuege zu finden. Sie enthalten schli- chtweg mehr Information. Und diese Information -- darauf kommt es an -- ist nicht im Werk abgeschlossen enthalten, sondern sie ist mit der Welt ausserhalb des Werkes verbunden. Die Stichwortzusammenfassungen in ``Langoliers'' werden erst ver- staendlich, wenn man sie eingebettet in Stephen Kings Gesamtwerk betrachtet. Die Abschnittslosigkeit von ``Dolores'' wird erst durch die Besonderheit des Buches im Gesamtwerk verstaendlich. In Summe sind das Schreiben bei Stephen Kind und das Songwriting und Auffuehren bei Bob Dylan keine Taetigkeiten um ihrer Selbst willen (mehr). Sie sind deren Mittel der Lebensbewaeltigung, ihr Kommunikationsmittel, ihr Gedanken-Welt-Interface. Ihre Buecher und Songs sind das was passiert, wenn sie sich mit der Welt auseinandersetzen. Das wirklich Antreibende ist die Beschaef- tigung mit der Welt. Stephen Kings Buchthemen sind seine Lebensthemen: Jugend, Alter, Angst, Krankheit, Liebe, usw. Nicht anders bei Dylan. Die Stile und Techniken reflektieren die reflektierte Beschaeftigung mit der eigenen Taetigkeit. Am Anfang steht die Beschaeftigung mit dem Leben, der Umwelt und der Profession. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke