2015-11-29 the real world Substanzlose Wissenschaft Und ueber Syntax-Highlighting Boris hat mich auf ein Paper [0] ueber den Effekt von Syntax- Highlighting auf das Programmverstaendnis hingewiesen. Ich war von dem Thema sofort begeistert. Jetzt habe ich den Text mit an- faenglich grossem Interesse gelesen. Am Ende bleibt aber eher die Ernuechterung stehen. Das Paper ist ein Paradebeispiel fuer die moderne Wissenschaft. Wenn man die erhebenden Leseerfahrungen von Papern von Kernighan, Dijkstra oder Knuth im Kopf hat, dann kann man den Output der modernen Wissenschaft nur als Schund empfinden. Das Schlimmste aber: Genau so ist es gewollt, denn das Wissenschaftssystem wird so gestaltet, dass sowas dabei raus kommen muss. Ich will meine Kritik bewusst nicht am Autor dieses Papers ueben. Sein Anteil an der Misere ist nur der, dass er keine persoenli- chen Nachteile in Kauf genommen hat, indem er darauf verzichtet, bestmoeglich in diesem Spiel ``Wissenschaft'' mitzuspielen, und es so mit am Laufen haelt. Sein Paper ist normal gut bzw. schlecht. Meine Kritik gilt der Wissenschaftswelt, die zu einem oberflaechlichen Business verkommen ist, was dazu fuehrt, dass wir Massen von pipifax Papers produziert bekommen, darunter aber keine mehr sind, an die man sich auch Jahre spaeter noch gerne erinnert, weil sie soviel Substanz haben. ``Substanz'', ja, ich glaube, das ist der Kern der Sache. Das ist es, was verloren gegangen ist ... Nein! Es wurde fallen gelassen! Heute ist das erwuenschte Ziel, dass Papers die geringstmoegliche gerade noch akzeptierte Substanz haben. Was fuer ein Irrsinn! Im erwaehnten Paper sind es zehn Studienteilnehmer, von denen drei (d.h. 30%) fuer einen Teil der Auswertungen rausfallen, weil der Eye-Tracker mit deren Brille nicht klar kommt. Ist das nicht etwas wenig Input? Statistische Werte hin oder her, ich finde die Datenmenge nicht repraesentativ genug. Aber das scheint kein Problem zu sein. Es kommt mir vor wie beim Wasserfall: Einmal gestartet hinterfragt man niemals den abgeschlossenen Schritt. (Haette man weitere oder mehr Personen testen sollen, ja viel- leicht sogar muessen?) Viel mehr ist es aber die nicht ausreichend beruecksichtigte und dargelegte Frage der Vorerfahrung in Python, die mir fehlt. Das Programmverstaendnis haengt, meiner Erfahrung nach, massiv von den Erfahrungen mit der jeweiligen Sprachsyntax und dem ueblichen Stil in der jeweiligen Sprach-Community zusammen. Wenn also jemand auch nur ein bisschen Erfahrung in der Sprache hat, dann wird er den Code ganz anders anschauen. Jemand mit viel Erfahrung nochmal anders. Die nur zehn Teilnehmer der Studie aber noch aus diesbezueglich verschiedenen Gruppen zu waehlen, reduziert die Aussagekraft nur weiter. Die schlimmste Verfehlung ist fuer mich jedoch, dass nicht beruecksichtigt wurde, wer normalerweise mit und wer ohne Syntax-Highlighting programmiert. Personen, die normalerweise in schwarz-weiss programmieren, koennten sich naemlich andere Tech- niken angeeignet haben. Wenn man davon ausgeht, dass alle Stu- dienteilnehmer normalerweise mit Syntax-Highlighting arbeiten (was wahrscheinlich ist), dann ist das Ergebnis letztlich nur eine Bestaetigung, dass diese auf diese Unterstuetzung angewiesen sind. Vermutlich wird man mir sagen, dass all diese Forderungen nett und verstaendlich sind, aber ueber den Fokus eines einfachen Pa- pers hinaus gehen ... dass man all diese Aspekte separat unter- suchen kann und sollte. Damit haben sie Recht, aber gerade das ist ja mein Kritikpunkt an der modernen Wissenschaft: Hundert Konsaliks kommen halt doch keinem Goethe gleich. Zwei Dutzend Halbstundenlaeufe sind kein Marathon. Gleichermassen kommen fuenf duenne Einzelaspektpapers auch nicht an ein einziges substan- zielles Paper heran. Dieser Qualitaetsverlust scheint aber nicht zu schmerzen ... Ich selber programmiere uebrigens ohne Syntax-Highlighting. Im Bezug auf das reine Programmverstaendnis kann ich einen daraus folgenden Nachteil bestaetigen. Diesen nehme ich in Kauf, fuer ein paar nicht so offensichtliche Vorteile, die ich gleichzeitig erlange. Darueber habe ich mal im Debianforum reflektiert: [1] Ich programmiere ohne Syntax-Highlighting. Da kann man nun der Meinung sein, dass mich das weniger produktiv macht. Da ist sicher etwas dran. Ich muss das Pattern- Matching alles selbst machen. Da finden sich Syntax- fehler deutlich schwerer. Zugleich trainiere ich aber staendig mein Pattern-Matching, weil es mir keine Software abnimmt. Ich behaupte mal, dass das dazu fuehrt, dass ich deshalb den Code genauer anschaue. Ich muss sorgfaeltiger arbeiten, weil ich sonst laenger bei der Fehlersuche brauche. Mit Syntax-Highlighting waere das nicht noetig. Nun, ist diese Umstaendlichkeit noetig? Wozu muss man ohne Syntax-Highlighting zurecht kommen? Eine berechtigte Frage. Aber was ist mit der Codestruktur?! Wenn ich nicht sorgfaeltig darauf achte, schoen strukturierten, uebersichtlichen, lesbaren Code zu schreiben, dann bin ich aufgeschmissen. Code mit schlechter Lesbarkeit wird ohne Syntax-Highlighting zur Qual. Hat man aber ein Syntax-Highlighting, dann merkt man den Unterschied deutlich weniger. Wenn nun mein oberstes Bestreben ist, lesbaren Code zu schreiben, dann ist es sicher sinnvoll, wenn meine eigene Arbeit im Code das Qualitaetsmass erfordert, das ich anstrebe. [0] http://ppig.org/sites/default/files/2015-PPIG-26th- Sarkar.pdf [1] https://debianforum.de/forum/viewtopic.php?t=155658&start=15#p1043972 http://marmaro.de/apov/ markus schnalke