2015-02-01 the real world Antiaktionismus Worauf es ankommt Aktionismus ist blindes Handeln. Antiaktionismus ist demnach gez- ieltes Handeln. Statt moeglichst viel zu tun geht es darum das zu tun was wichtig ist. Zugleich will ich besonderen Wert auf diejenigen Handlungsfelder legen bei denen mit wenig Aufwand besonders viel erreicht werden kann. Das ist Effektivitaet: Das Richtige zu tun. Alle schimpfen ueber die Bahn. Ich finde einen grossen Teil des Geschimpfes unangebracht. Da sollte eher die Bahn ueber die Fahrgaeste schimpfen. Aber es ist durchaus so, dass die Bahn De- fizite hat. Sie hat sowohl Defizite in Bereichen, die sich nur schwer verbessern lassen (z.B. die Schienennetzauslastung), als auch in Bereichen, in denen sie mit wenig Aufwand viel verbessern koennte. Diesen zweiten Bereich sollte sie angehen. Darum geht es mir hier. (Mein Appell ist aber nicht Bahn-spezifisch; er trifft viel allgemeiner zu.) Es ist Sonntag. Die Zuege fahren seltener als unter der Woche. Normalerweise wuerde ich mit dem Zubringerzug (RB) nach Geislingen/Steige fahren und dort in den schnelleren IRE nach Stuttgart wechseln. Da es dafuer sonntags keinen passenden Zubr- inger gibt, empfiehlt mir die Bahn-Website, dass ich nach Ulm fahren solle (die entgegengesetzte Richtung) um dort in den IRE zu wechseln. Die sieben Minuten Umsteigezeit kamen mir kritisch vor, aber da ich nicht irgendwo eine dreiviertel Stunde warten wollte musste ich dieses Risiko eingehen. Als ich aus dem Haus ging war der Zubringer nach Ulm laut Website puenktlich. Am Bahnsteig informierte die Anzeige ueber fuenf Minuten Verspaetung -- das ist nicht ungewoehnlich. Es bestae- tigte sich, dass es knapp werden wuerde. Genau fuenf Minuten zu spaet fuhr der Zug mit mir ab. Es wuerden also zwei Minuten bleiben um in Ulm auf das Gleis nebenan zu wechseln. Das sollte zu schaffen sein. In Ulm ankommend hatte der Zubringer aber no- chmal Zeit verloren. Der Zug nebenan war schon abfahrbereit. Ich stuermte also raus, die Treppen runter -- da kam der Pfiff --, die Treppen hoch, zur Tuer: ... schon verriegelt. Wie ich den Tueroeffner betaetigte setzte sich der Zug in Bewegung. Im Los- fahren witzelte der Lokfuehrer noch durch's offene Fenster mit seinem Kollegen auf dem Bahnsteig. Ich biss mir auf die Lippen. Eine einzige Minute! Haette er mir nur eine Minute zum Umsteigen gegeben! Aber es waren nicht mal 20 Sekunden. Dieser Anschluss ist nicht exotisch. Er betrifft alle, die zwischen Ulm und Geislingen wohnen und sonntags nach Stuttgart wollen. Die Bahn-Website schlaegt diese Verbindung vor. Ich verstehe, dass nicht auf jeden Zug gewartet werden kann, aber wenn man nicht auf offensichtliche Zubringerzuege, die noch quasi puenktlich kommen, wartet, worauf denn dann? Mit einem solchen Verhalten optimiert man die Quote der Zuege ohne Verspaetung. Vielleicht hat die Bahn noch nicht verstanden, dass diese Quote weniger wichtig ist als die der erreichten An- schluesse. Bekommen Lokfuehrer Praemien wenn sie puenktlich ab- fahren, aber keine wenn sie einen Anschluss ermoeglichen? Was schafft Fahrgastzufriedenheit? Meiner Meinung nach nicht die Quote puenktlicher Zuege. Ich denke eher, dass wir unsere Erwar- tungen von der perfekten Puenktlichkeit der Bahn verabschieden muessen. Sie ist bei einer solchen Netzauslastung und dem Just- in-Time-Denken nicht mehr moeglich. Auch die Bahn muesste aus Realitaetsnaehe von diesem, ihrem liebsten Ideal abweichen und stattdessen die Grenzen der Realitaet akzeptieren um ihnen angemessen zu agieren. Der Anschluss war also weg. Darum wollte ich einen kostenlosen Uebergang zum Intercity bekommen, um zumindest mit dem naechst- moeglichen Zug fahren zu koennen. Das war prinzipiell auch moe- glich, aber ueberaus umstaendlich: Am Serviceschalter in Ulm bekam ich eine Verspaetungsbescheinigung. Im Reisezentrum nebenan musste ich mir ganz normal einen IC-Uebergang kaufen. Am Zielort (Stuttgart) konnte ich mir dann mit der Verspaetungsbescheinigung und dem Uebergangsticket ein Fahrgastrechteformular zur Kosten- rueckerstattung der 2,70 EUR ausfuellen. Warum wird ein so offen- sichtliches Problem so verzoegert und versetzt? Das An- schlussproblem war in Ulm, die Erstattung musste ich in Stuttgart beantragen, irgendwo anders wird sie schliesslich bearbeitet. In Ulm hatte die Mitarbeiterin mein Problem schon nachvollzogen und akzeptiert, in Stuttgart musste ich dem dortigen Mitarbeiter alles nochmal erklaeren (was schwierig war, da er die Situation in Ulm nicht kennt), und jetzt muss ich darauf hoffen, dass die Rueckerstattungsbearbeiter das real vorhanden gewesene Problem auch als solches anerkennen. Ich musste dreimal warten und vier- mal werden Personen durch diese Sache in Anspruch genommen, dabei haette es die erste Person auch gleich abschliessen koennen, in- dem sie mir den Uebergang gleich ausgestellt haette. Das ist Aktionismus: Workflows einzufuehren, die zwar eine Anfor- derung loesen, das aber auf umstaendliche Art tun, wenn es viel direkter und sinnvoller ebenso moeglich gewesen waere. Aktion- ismus bedeutet: ``Ich muss irgendwas machen!'' statt: ``Wie loese ich das Problem am besten?'' Beim Warten im Reisezentrum hatte ich natuerlich auch Kontakt mit dem Nummernziehsystem, das es dort seit einiger Zeit gibt. Ich finde solche Verfahren gut, falls sie sinnvoll eingesetzt werden. Ich mag sie weil sie es mir erlauben lange Wartezeiten sinnvoller zu nutzen. Wenn aber auch bei nicht vorhandener Warteschlange dazu genoetigt werde eine Nummer zu ziehen, dann frage ich mich, ob die Systeme grossteils dem Monitoring dienen. Ich denke, dass Wartende ganz automatisch anfangen und aufhoeren wuerden Nummern zu ziehen, abhaengig vom Ansturm. Ich denke, dieses System waere selbstregulierend, wenn man es nur liesse. Stoerend find ich diese Touchbildschirme, ueber die man sich die Nummer raus laesst. Ich behaupte, dass die natuerlichste und beste Aktivierung der Nummernausgabe ein Hardwareschalter (Tas- ter) waere. Dessen Hauptnachteil ist seine Unflexibilitaet: Man kann ihn nur auf genau eine Weise verwenden. (Das ist allerdings auch der Grund weshalb er fuer genau diese Weise so ueberaus geeignet ist.) Wenn man nun beobachtet, wie die Leute beim ersten Mal alle erstmal irritiert innehalten, bis sie verstehen, dass da kein Hardwareschalter ist, sondern man auf den Bildschirm druecken muss, da wird klar, dass dieser Touchschalter ein Kompromiss ist. Man opfert die Intuitivitaet der Bedienung ... fuer was? Die Kosten koennen es kaum sein, da ein Touchbildschirm sicher teurer ist als ein normaler Bildschirm. Und: Warum ist da denn ueberhaupt ein Bildschirm verbaut? Man verbaut Bildschirme wenn man dynamische Inhalte anzeigen will. Was zeigt dieser Bildschirm an? Im Standby ist es ein Bild von einem Knopf plus wabberndem Pfeil (der um Aufmerksamkeit bemueht ist. Diese braucht er, da man sonst den Touchschalter nicht fin- det). Wenn der Knopf gedrueckt wurde kommt eine ``Nummer wird gedruckt''-Meldung. Und abschliessend folgt eine Animation, die das Nummernticket aus dem Schlitz fahren zeigt, bevor die Anzeige wieder in den Standby springt. Nun eine Stufe weiter: Die Standbyanzeige zeigt nur eine sta- tische Animation, auf die man ganz verzichten koennte. Dann die ``wird gedruckt''-Meldung auf die man ebenfalls verzichten koennte, da gleichzeitig der Drucker rattert (akkustische Rueck- meldung). Bleibt noch die Ausgabeanimation. Diese stellt nur vir- tuell das dar was gleichzeitig etwas tiefer in der Realitaet pas- siert. Wozu diese Dopplung? Interessanterweise findet sich die einzige wirkliche Dynamik in dieser letzten Ausgabe: Das Ticket, das virtuell aus dem Schlitz fahrend dargestellt wird hat die tatsaechlich vergebene Nummer aufgedruckt. So, und nun frage ich: Wozu das alles? Nichts von all dem bietet einen Mehrwert. Der moegliche Mehrwert aber, fuer den man die dynamische Anzeige wirklich braeuchte, der wird ignoriert. Der Standby-Screen sollte anzeigen welche Nummer als naechstes aus- gegeben wird und wieviele Personen demnach gerade warten. Das waere mal sinnvoll! Und wenn schon ein Computer dahinter sitzt, dann koennte dieser auch abschaetzen wie lange die Wartezeit wohl sein wird. In der jetzigen Auspraegung aber loest das System die relevanten Probleme nicht, waehrend es gleichzeitig unnoetig Funktionen hat (die Kompromisse verursachen). Wir duerfen uns nicht damit zufrieden geben, dass es ja moeglich ist, Tickets zu erzeugen! Fehlt der Informatik (aber nicht nur der Informatik) Uebung in der strukturierten Eroerterung der zu bewaeltigenden Aufgaben? http://marmaro.de/apov/ markus schnalke