2014-12-06 the real world Steppenwolf Ein Spiegel Achteinhalb Jahre hat es gedauert. Achteinhalb lange Jahre, die sie darauf gewartet hat. Achteinhalb Jahre bis ich bereit dazu war. Vor achteinhalb Jahren hat sie mir dasjenige Buch geschenkt, das ihr am meisten bedeutet: Den Steppenwolf. Es war nicht so, dass ich das Buch nicht lesenswert gefunden haette, im Gegenteil, die Sicherheit, dass dieses Buch bedeu- tungsvoll fuer mich sein wuerde, diese hat mich gehemmt es zu lesen. Ich habe mich ueberfordert gefuehlt mit der Groesse; keine Zeit schien mir wuerdig genug; nie war ausreichend Ruhe vorhan- den. Dabei war es nie aus meiner Kopf. Es war Vorfreude und Belastung zugleich, jeden Monat von neuem, immer wenn mich das Buch aus dem Regal angeschaut hat. Wie oft habe ich mich gefragt, wann die passende Zeit sein wuerde! Wie oft schien ich sie hier und dort zu erahnen, nur um das Vorhaben dann doch wieder zu verwerfen. Ein jedes Mal fand ich mich oder die Zeit nicht wuerdig genug fuer dieses Geschenk. Und als dann ein Freund ebenfalls meinte, ich solle den Step- penwolf lesen, der wuerde gut zu mir passen -- das war schon vor Jahren -- ... und als mir dann ein anderer Freund ``Narziss und Goldmund'' schenkte ... da wurde der Druck nur groesser. Den Steppenwolf muesste ich schon zuerst lesen, bevor ich andere Werke von Hesse, die immer wieder an mich heran getragen wurden, anginge. Jetzt war die Zeit gekommen, nicht aber weil mein Leben nun ruhig und ausgeglichen waere und ich Raum und Musse zum im Buche Auf- gehen haette, sondern weil die Katastrophe Eignung schafft. Ich bin froh, das Buch jetzt zu lesen, denn frueher haette ich es nicht so verstanden wie jetzt. Keine passendere Zeit haette es gegeben fuer diese Gedanken. Oh, wie Recht hatten sie doch alle, mich auf den Steppenwolf hinzuweisen! Hunderte treffende Worte koennte ich aus diesem Buch heraus- greifen um anzudeuten wie sehr ich meine eigenen Gedanken darin wiedererkenne! Aber nur eine Stelle soll es sein. [0] (Ich kann mich nicht entscheiden, welche Stimmung ich am Ende stehen lassen will. Moege man also aufhoeren zu lesen wo es einem beliebt.) ``Nein'', sagte ich, ``es aergert mich nicht, ich bin laengst daran gewoehnt. Ich habe ein paarmal die Meinung geaeussert, jedes Volk und sogar jeder einzelne Mensch muesse, statt sich mit verlogenen politischen `Schuldfragen' in Schlummer zu wiegen, bei sich selbst nachforschen, wie weit er selbst durch Fehler, Ver- saeumnisse und ueble Gewohnheiten mit am Kriege und an allem andern Weltelend schuldig sei, das sei der ein- zige Weg, um den naechsten Krieg vielleicht zu ver- meiden. Das verzeihen sie mir nicht, denn natuerlich sind sie selber vollkommen unschuldig: der Kaiser, die Generaele, die Grossindistruellen, die Politiker, die Zeitungen -- niemand hat sich das geringste vorzuwer- fen, niemand hat irgendeine Schuld! Man koennte meinen, es stehe alles herrlich in der Welt, nur liegen ein Dutzend Millionen totgeschlagener Menschen in der Erde. Und sieh, Hermine, wenn solche Schmaehartikel mich auch nicht mehr aergern koennen, manchmal machen sie mich doch traugig. Zwei Drittel von meinen Landsleuten lesen diese Art von Zeitungen, lesen jeden Morgen und Abend diese Toene, werden jeden Tag bearbeitet, ermahnt, verhetzt, unzufrieden und boese gemacht, und das Ziel und Ende von dem allem ist wieder der Krieg, ist der naechste, kommende Krieg, der wohl noch scheusslicher sein wird, als dieser es war. Alles das ist klar und einfach, jeder Mensch koennte es begreifen, koennte in einer einzigen Stunde Nachdenkens dasselbe Ergebnis finden. Aber keiner will das, keiner will den naechsten Krieg vermeiden, keiner will sich und seinen Kindern die naechste Millioenschlaechterei ersparen, wenn er es nicht billiger haben kann. Eine Stunde nachdenken, eine Weile in sich gehen und sich fragen, wieweit man selber an der Unordnung und Bosheit in der Welt teilhat und mitschuldig ist -- sieh, das will niemand! Und so wird es also weitergehen, und der naechste Krieg wird von vielen tausend Menschen Tag fuer Tag mit Eifer vor- bereitet. Es hat mich, seit ich es weiss, gelaehmt und zur Verzweiflung gebracht, es gibt fuer mich kein ``Vaterland'' und keine Ideale mehr, das alles ist bloss Dekoration fuer die Herren, die das naechste Schlachten vorbereiten. Es hat keinen Sinn, irgend etwas Menschliches zu denken, zu sagen, zu schreiben, es hat keinen Sinn, gute Gedanken in seinem Kopf zu bewegen -- auf zwei, drei Menschen, welche das tun, kommen Tag fuer Tag tausend Zeitungen, Zeitschriften, Reden, oeffentliche und geheime Sitzungen, die alle das Gegenteil anstreben und auch erreichen.'' Und gleich im Anschluss: Hermine hatte mit Teilnahme zugehoert. ``Ja'', sagte sie nun, ``da hast du schon recht. Na- tuerlich wird es wieder Krieg geben, man braucht keine Zeitungen zu lesen, um das zu wissen. Darueber kann man natuerlich traurig sein, einen Wert hat das aber nicht. Es ist gerade so, wie wenn einer darueber traurig ist, dass er trotz allem und allem, was er dagegen tun mag, unweigerlich einmal wird sterben muessen. Der Kampf gegen den Tod, lieber Harry, ist immer ein schoene, edle, wunderbare und ehrwuerdige Sache, also auch der Kampf gegen den Krieg. Aber er ist auch immer eine hoffnungslose Donquichotterie.'' ``Das ist vielleicht wahr'', rief ich heftig, ``aber mit solchen Wahrheiten wie der, dass wir doch alle bald sterben muessen und also alles wurst und egal ist, macht man das ganze Leben flach und dumm. Ja sollen wir denn also alles wegwerfen, auf allen Geist, auf alles Streben, auf alle Menschlichkeit verzichten, den Ehrgeiz und das Geld weiterregieren lassen und bei einem Glas Bier die naechste Mobilmachung abwarten?'' Merkwuerdig war der Blick, mit dem Hermine mich nun an- sah, ein Blick voll Belustigung, voll Spott und Schel- merei und verstaendnisvoller Kameradschaft und zugleich so voll Schwere, Wissen und abgrundtiefem Ernst! ``Das sollst du nicht'', sagte sie ganz muetterlich. ``Dein Leben wird auch dadurch nicht flach und dumm, wenn du weisst, dass dein Kampf erfolglos sein wird. Es ist viel flacher, Harry, wenn du fuer etwas Gutes und Ideales kaempfst und nun meinst, du muesstest es auch erreichen. Sind denn Ideale zum Erreichen da? Leben wir denn, wir Menschen, um den Tod abzuschaffen? Nein, wir leben, um ihn zu fuerchten und dann wieder zu lieben, und gerade seinetwegen glueht das bisschen Leben man- chmal eine Stunde lang so schoen. Und nochmals direkt anschliessend: Du bist ein Kind, Harry. Sei jetzt folgsam und komm mit mir, wir haben heut viel zu tun. Ich werde mich heut nicht mehr um den Krieg und die Zeitungen kuemmern. Und du?'' O nein, auch ich war bereit. [0] Hermann Hesse: Der Steppenwolf. S. 142 ff. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke