2013-12-05 the real world Ausschreibungsverfahren Ungeeignet fuer Softwareentwicklungen Das oeffentliche Ausschreibungswesen ist fuer Softwareentwick- lungen unpassend. Jemand hat festgestellt, dass man mittels Ausschreibungen den Bewerber mit dem besten Preis-Leistungs-Verhaeltnis auswaehlen wuerde. Wenn diese Erkenntnis auch viel fuer sich hat, so ist sie keinesfalls umfassend genug um die Gesamtsituation zu beschreiben. Zum Preis-Leistungs-Verhaeltnis: Wenn dies ein ausreichendes Bewertungskritierium waere, warum geben die Warentester dann nicht nur dieses an? Zum Preis: Diese Komponente scheint einfach zu erfassen zu sein. Das aber nur, wenn man lediglich den ersten Kaufpreis betrachtet. Wo gehen die, je nach Produkt unterschiedlichen, Folgekosten in die Bewertung mit ein? Bei einem Bleistift moegen kaum Folgekos- ten auftreten, bei einem Stuhl schon eher (Reparatur), bei Software dagegen sind Folgekosten der Normalfall. Man versucht das mit Nachbesserungsarbeiten und Supportvertraegen abzubilden, kommt damit aber lange nicht an die Realitaet heran. In wie weit entspricht also die Preis-Komponente dem realen Preis eines Produktes? Nun zur Leistung: Ein Preis-Leistungs-Verhaeltnis ist nur dann eine aussagekraeftige Masszahl, wenn sich die Leistung innerhalb eines akzeptablen Rahmens bewegt. Dies ist bei Ausschreibungen beruecksichtigt. Allerdings, und das ist der Knackpunkt, werden nur hard facts erfasst. Die soft facts sind aber, wie man bei der Personalauswahl inzwischen erkennt, ebenso entscheidende Leis- tungsfaktoren. Wie wird zum Beispiel die Professionalitaet des Anbieters in die Bewertung mit einbezogen? Was ist mit der Wartbarkeit des Sys- tems? Der Erweiterbarkeit? Der Codequalitaet? Wie schnell und kompetent setzt der Anbieter Wuensche um? Versteht er die Wuensche ueberhaupt? Wer muss sich an wessen Arbeitspraxis an- passen? Kann der Anbieter skalieren, wenn es noetig ist? Gibt es ihn in ein paar Jahren noch? All diese Faktoren gehoeren ebenso zur Leistungs-Komponente eines Produktes. Beruecksichtigt werden sie jedoch kaum. Sie lassen sich halt schlecht messen. Das Preis-Leistungs-Verhaeltnis, nach dem man auswaehlt, ist dem- nach eher ein Anfangspreis-hardfact-Leistungs-Verhaeltnis. Es wird aber nicht gezielt derjenige Anbieter gewaelt, der die ger- ingsten Gesamtausgaben im Verhaeltnis zur groessten Gesamtleis- tung bietet. Der Grundfehler besteht in der Annahme, die Softwareentwicklung waere eine reine handwerkliche Produktion. Man wuerde einen vollstaendigen Bauplan entwerfen, dann die Teile herstellen und schliesslich zusammensetzen. Fuer solche Szenarien sind Ausschreibungsverfahren grossteils angemessen. Software ist aber mehr als ein handwerkliches Produkt. Nehmen wir den Vergleich mit der Architektur. Dieser Vergleich wird oft angebracht und es spricht viel fuer ihn. Einen Architekturentwurf nach der reinen Erfuellung von Funktionseinrichtungen zu beurteilen ist offensi- chtlich unangemessen. Es kommt nicht nur darauf an, dass ein Gebaeude Treppen hat, sondern auch darauf, dass sie an den richtigen Stellen sind. Qualitaetsmerkmale, wie die Laermsitua- tion, die natuerliche Klimatisierung, oder kurze Wege, sind die Aspekte, die das taegliche Leben im Gebaeude am staerksten beein- flussen. Nicht anders ist es bei Software. Und doch ist Software eine ganze Stufe komplexer als die Architektur. Die Softwareentwicklung bietet mehr Freiheitsgrade. Dort gibt es keine Einschraenkungen der Bauflaeche oder der Schwerkraft. Dort sind Fehler nicht offensichtlich. Dort bekommt der Auftraggeber die Gestalt des Systems selten zur Sicht. Er kann nicht selbst urteilen, sondern muss glauben was ihm erzaehlt wird. Die Stabil- itaet einer Betondecke wird der Laie zwar kaum nachpruefen koen- nen, aber dafuer gibt es ja Statiker; wenn ein Gebaeude aber un- ten schmal und oben breit ist und zudem nach einer Seite haengt, dann wuerde auch der Laie misstrauisch werden und sich erkundi- gen. Auch fauliges Bauholz wuerde er als solches erkennen. Bei Software liegen all diese Dinge im Verborgenen. Sollte man deshalb nicht, erstens, einen offenen Quellcode, mit zumindest theoretischer Nachvollziebarkeit, fordern, und, zweitens, die Entwickler, denen man so grosses Vertrauen entgegen bringen muss, mit groesster Sorgfalt auswaehlen? Ich bin der Meinung, dass es viel wichtiger ist, einen faehigen Entwickler zu haben, der einem hohe Qualitaet garantiert, als dass man sich von einem anderen viele Funktionen versprechen laesst. Die Praxis zeigt, dass zugesagte Funktionen oft doch nicht oder nur unzureichend umgesetzt werden. Ungeachtet dessen, dass sie damals im Auswahlprozess die (scheinbare) Leistung des Anbieters verbessert haben. Und wo wird die Qualitaet der umgesetzten Funktionen beruecksi- chtigt? Nehmen wir all die zusaetzliche Zeit, die Mitarbeiter in Bugs stecken: Die Fehler zu finden, einzugrenzen, zu beschreiben, die Behebung nachzuverfolgen, zu kontrollieren, zwischenzeitlich Workarounds zu entwickeln, und so weiter. Wie wird diese Zeit er- fasst und bewertet? Wo qualitativ gute Anbieter diese Arbeiten deutlich reduzieren oder gar unnoetig machen. Ich behaupte (aus dem Bauch heraus), dass ein qualitativ schlechter Anbieter seine Kosten ueber solche indirekten Wege verdoppelt. Diese indirekten Zusatzkosten werden in den Ausschreibungsverfahren jedoch nicht beruecksichtigt. Mir kommt das alles so vor, wie wenn man, fuer die Produktion eines literarischen Werkes nur die Anzahl und Art der handelnden Personen, die Schauplaetze und ein paar inhaltliche Vorgaben festlegen wuerde, und dann denjenigen Autor waehlt, der das Werk am billigsten umzusetzen verspricht. Ich selbst wuerde da locker jeden Hemmingway, Kafka, Goethe un- terbieten. Wer aber, der von Literatur eine Ahnung hat, waere so verrueckt mich in dieser Entscheidung auszuwaehlen? Bei der Softwareentwicklung ist dies leider Gang und Gebe. Ich, der ich etwas von der Sache verstehe, kann nicht anders als die Haende ueber dem Kopf zusammen schlagen. Es zeigt sich, dass der Grossteil der Welt (tragischerweise eben auch die Entscheider) keine Ahnung von Software, ihrer Entwick- lung und der digitalen Welt als Ganzes haben. Wieviele Jahrzehnte -- Jahrhunderte gar -- muessen vergehen, bis die Menschheit ein *Gefuehl* fuer das Digitale entwickelt hat? http://marmaro.de/apov/ markus schnalke