2020-10-01 herz und hirn Wanderer zwischen den Welten Verstaendnis und Verstandenwerden Warum kann ich mit Gleichaltrigen tendenziell eher weniger an- fangen? Ich denke, dass sie mir meist zu kurzsichtig sind. Sie schauen mir zu sehr auf Oberflaechen, lassen sich zu leicht blen- den, meinen mitschwimmen zu muessen, reflektieren nicht genug. Meine Gegenueber muessen den schoenen Schein der Welt durchbro- chen haben, ihre Illusionen entlarvt haben, hinter den Kulissen verkehren. Dazu braucht es eine gewisse Lebenserfahrung, die na- tuerlich nicht nur vom Alter abhaengt; Alter macht sie nur wahrscheinlicher. Es braucht auch eine passende Geisteshaltung. Ein guter Pruefpunkt ist die Wertschaetzung des Bestehenden. Die Meinung dazu sagt viel ueber Alter und Lebenserfahrung aus. In gewisser Weise bin ich eine langweilige Person. Aeltere Men- schen sind tendenziell seltener dieser Meinung. Sie nehmen sich mehr Zeit, schauen genauer hin. Sie fuehren ein weniger kurzle- biges, effekthascherisches Leben oder sind zumindest noch in einer Zeit aufgewachsen als die Welt noch nicht so schnell war. Medial bin ich in frueheren Zeiten verhaftet. Ich mag Schallplat- ten sehr. Es ist schwer zu greifen was genau mich daran an- spricht. Vielleicht ist es vor allem die Erinnerung an meine Jugend, an die Naechte als junger Erwachsener, in denen sie mich gerettet haben, nachts bei Kerzenschein mit Kopfhoerern im Bett. Wenige Gleichaltrige haben solche Erfahrungen gemacht. Auch handschriftliche Briefe sind wichtig in meinem Leben. Die vielen, vielen Briefe die ich mit Lydi geschrieben habe, den Umgang mit dem unabdingbaren Zeitversatz fuer den Transport. Ich mag das. Es funktioniert aber nur in einer langsameren Welt, welche heute nur noch abseits der digitalen Vernetzung zu finden ist. Aeltere ha- ben eher einen Bezug dazu. Im Vergleich zu vielen Gleichaltrigen habe ich schon mehr erlebt und verarbeitet. Ich denke halt auch sehr viel nach, beobachte die Welt und die Menschen um mich herum. Wenn ich Gespraeche mit aelteren Menschen fuehre, dann begegnen mir solche Betra- chtungswinkel eher ... Oder sind es diejenigen Betrachtungswink- el, die ich gerade erlange, waehrend ich die anderen schon dur- chgearbeitet habe? Das Alter ist nicht entscheidend; es macht nur manches wahrscheinlicher. Ich kann mich in die Lebenssituation von etwas aelteren Menschen besser reinversetzen als in die der meisten Gleichaltrigen. Andererseits gibt es Themen, die bei den Juengeren staerker aus- gepraegt sind. Dazu gehoeren der Klimawandel, Mikroplastik, Gen- derfragen und Rollenbilder. Dies alles ist mir auch wichtig. Ein Kernthema meines Lebens ist es, ein Wanderer zwischen den Welten zu sein. Ich habe vieles gesehen, ich habe vieles in mich aufgenommen, alles gehoert zu mir, aber wo gehoere ich hin? Fuer die Intellektuellen bin ich ein Arbeiter. Fuer die Arbeiter bin ich ein Intellektueller. Fuer die Theoretiker bin ich ein Praktiker. Fuer die Praktiker ein Theoretiker. Fuer die Informa- tiker bin ich ein Philosoph, Historiker, Psychologe, Sozi- alwissenschaftler. Fuer die Geisteswissenschaftler bin ich ein Informatiker. Fuer die Landbevoelkerung bin ich ein Staedter. Fuer die Staedter ein Aelbler. Fuer die Jungen bin ich alt, fuer die Alten jung. -- Nichts davon bin ich richtig. Ich bin alles zugleich ... verdammt dazu nirgends ganz zuhause zu sein. Besonders zu sein ist fuer die Anderen gut wenn sie bei Bedarf und auf Abruf von mir profitieren koennen. Ich bin ein guter Telefonjoker. Mich sollte man in der Hinterhand haben. Auf Dauer bin ich aber zumeist belastend, fuer beide Seiten. Ohne die noe- tige Balance wird es einseitig anstrengend, oder beiderseitig an- strengend auf jeweils unterschiedliche Weise. Ich bin keinesfalls einfach. Die Welt ist fuer mich auch nicht einfach. In vielen Stunden fuer mich alleine verarbeite ich sie. Diese Zeit brauche ich. Dennoch suche ich -- wie wohl jeder Mensch -- auch Naehe. Ich suche Verstaendnis und Verstandenwerden. Es scheint hoechst unwahrscheinlich, mein Spektrum in einzelnen anderen Menschen wiederzufinden. Ich sehne mich dennoch danach, mit ernuechterter Hoffnung. Es ist tragisch: In der Informatik kenne ich meinen Ort, dieser ist jedoch nicht mehr gefragt. Die Spezialisierung ist ebenso wenig hilfreich wie Allrounder zu sein, denn in der Welt wandle ich zwischen vielen Gegenden umher, nirgends richtig zuhause. Nur mein eigenes Ich fuer mich selbst ist mir ein Zuhause. Es passt, ist stimmig, tut mir gut. Darum ziehe ich mich so oft zurueck ... ich gehe einfach dorthin wo ich mich wohlfuehle, wo die Welt fuer mich stimmig ist, wo ich mehr als sonst ueberall zuhause bin. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke