2020-06-04 gesellschaftsanalyse Worst-Case-Betrachtungen Robuste Fallback-Loesungen Die Best-Case-Betrachtung dominiert unsere Welt. Technologie, Wirtschaft, Politik -- alles dreht sich um Best-Case- Betrachtungen. Das ist ein Fehler. Die Worst-Case-Betrachtung ist diejenige, die vorherrschen sollte. (Man koennte das auch Technikfolgenabschaetzung nennen, jedoch wirkt das zu institutionell, auf die Technologie beschraenkt, so fern, so beliebig. Mir geht es hier um eine grundsaetzlich schlechte Weltsicht, die generell vorherrscht.) Die populaere Weltsicht basiert auf zwei Grundsaetzen: (1) Die Welt ist einfach. (2) Wir haben etwas fuer euch das ihr toll fin- den werdet. Beides ist verhaengnisvoll und der Grund vieler heutiger Prob- leme. Auf Basis der ``Die Welt ist einfach''-Illusion kann nichts Gutes entstehen. Solange diese vorherrscht ist alle Muehe vergebens. Sie verhindert, dass die Welt als System und damit voll vielfael- tiger und komplexer Zusammenhaenge wahrgenommen wird. Diese sind es naemlich, worin unsere heutigen Probleme liegen. Wenn man diese nicht erkennen kann, dann kann man sie auch nicht loesen. The significant problems we face cannot be solved at the same level of thinking we were at when we created them. [0] Entstanden sind sie durch ein Die-Welt-ist-einfach- und ein Best-Case-Denken. Nehmen wir die Atomkraft: Ihr Best-Case funktioniert. Damit hat man sie beworben, so hat man sie gesehen: Eine neue Ener- giequelle, sauber, direkt, leistungsstark. Der Best-Case basiert auf der Hoffnung, dass alles klappen wird, also auch darauf, dass der Atommuell kein Problem sein wird ... eine Loesung wird sich schon finden ... Best-Case ... Hoffnung. Hier erkennt man die technologisch-industrielle Sichtweise auf den Klimawandel wieder: die sichere Hoffnung, dass sich die Probleme ganz einfach loesen lassen werden. Man erfindet einfach etwas Tolles, dann werden die heutigen Probleme schlicht irrelevant. Es braucht keine Experten oder Murphy's Law um zu begreifen, dass der Best-Case unrealistisch ist. Indem man sich an ihm orien- tiert, orientiert man sich zwangslaeufig an einer Illusion. Der Best-Case ist nur eine Schranke des maximal Erreichbaren, kann aber keine Erwartungs- oder alleinige Handlungsgrundlage sein. Der Average-Case bei der Atomkraft bedeutet, dass es Bedienfehler in den Kraftwerken geben wird, dass es Fehlkonstruktionen und ka- putte Bauteile gibt, dass das Entsorgungsproblem langsamer als erwartet und nur teilweise geloest werden kann, dass es Auswir- kungen gibt, die nicht vorhergesehen worden sind ... denn all das ist die ganz normale Realitaet!, die wir uns nur nicht eingestehen wollen, mit unserer problemvertuschenden Arbeitshal- tung. Der Worst-Case nun, als untere Schranke des Moeglichen -- ja, des *Moeglichen*! -- muss ebenso betrachtet werden. Er ist vielleicht wenig wahrscheinlich -- ebenso wenig wie der Best-Case, wie ich anmerken will -- aber wir brauchen ein Verstaendnis dafuer und einen Umgang damit. Wer seine Entscheidung Lotto zu spielen nur am Jackpot festmacht ist ein Idiot. Genau so verhaelt sich die Menschheit aber zu einem grossen Teil: Sie spielt Lotto, merkt dabei aber gar nicht, dass sie die ganze Zeit Geld verliert. Sie schaut nur nach dem Jackpot, den sie bestimmt bald aber wahrscheinlich nie erreichen wird. Was also ist der Worst-Case der Atomkraft? Jahrhundertelang ver- strahlte Gegenden und ein unloesbares Atommuellproblem! Ich finde, dass eine rationale Gesellschaft keine Option akzep- tieren darf, deren Worst-Case-Folgen ihren Horizont uebersteigt. 20 Jahre strahlende Rueckstaende -- okay. 50 Jahre strahlende Rueckstaende -- meintwegen. 500 Jahre strahlende Rueckstaende -- inakzeptabel. Darauf einzugehen ist unverantwortlich. Noch schlimmer aber: Durch so eine Verlagerung der Kosten und Probleme in die Zukunft kann man im Jetzt gewaltige Gewinne ein- fahren, da man sich der Kosten (vorerst) entledigt hat. Dies praegt dann aber auch das Bild des Erreichbaren. Es hebt die Erwartungen auf ein Mass, das gar nicht realistisch ist. Natuer- lich scheint es so, als ob man Kaufkraft habe, wenn man staendig Kredite aufnimmt. Das ist aber eine Fehlwahrnehmung, die sich bitter raechen wird. Unser Fortschritt der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte ist bei weitem nicht so gross wie er erscheint; keinesfalls wird es so weiter gehen, da er auf Pump realisiert worden ist. U.a. der Natur haben wir massenhaft Kredite abgepresst. Schon werden aber die ersten Rueckzahlungen faellig ... Auch der Plastik-Boom basiert auf der Best-Case-Betrachtung. Na- tuerlich ist Plastik (erstmal) billig, einfach verarbeitbar, beliebig formbar, wasser- und luftdicht, saeurebestaendig, anti- bakteriell, leicht, -- die Vorteile hoeren gar nicht auf; ein idealer Werkstoff eben. Sein Erfolg kommt nicht von ungefaehr. Er ist ein Best-Case-Sieger. Aber der Best-Case ist nicht alles. Plastik geht schnell kaputt und ist dann schlecht reparierbar. Plastik laesst sich ganz ein- fach als hauchduenne Folie in Verbundstoffe verarbeiten, ist dann aber nicht mehr trennbar. Plastik ist haltbar, zersetzt sich also auch nicht. -- Diese Average-Case-Realitaeten nimmt man viel weniger wahr. Die Werbung wuerde sie natuerlich niemals praesen- tieren. Werbung ist Best-Case-Betrachtung only. Die Worst-Case-Betrachtung umfasst die Frage, was mit dem ganzen Plastik passiert, wenn wir passiv sind oder uns unvernuenftig und nicht wie vorgesehen verhalten. Wenn wir bereit sind, es uns ein- zugestehen, dann muessen wir zugeben, dass das Meeresplastik stark dem Worst-Case entspricht. Nicht nur, dass es unmoeglich erscheint, diesen Kredit jemals wieder zurueckzuzahlen -- es war so einfach ihn aufzunehmen! --, wir sind noch nicht mal in der Lage, die weitere Kreditaufnahme abzubrechen. Und selbst wenn wir das schaffen, dann werden noch jahrzehntelang weiter Kosten auflaufen und sichtbar werden. Wer wuerde sich von einem Kredithai mit Wucherzinsen Geld borgen ... ueber Jahrzehnte ... viele Male? Diese Person muesste doch voellig irrsinnig und lebensmuede sein! Plastik ja, wenn es sich selbststaendig zersetzt und aufloest. Kredite ja, wenn sie sich automatisch und sicher tilgen. Was wir brauchen sind nicht tolle Best-Case-Versprechungen, son- dern robuste Worst-Cases. Ich will keine Parteien, die grosse Visionen darlegen, sondern ich will wissen was ich bei ihnen im schlimmsten Fall sicher habe. Alle reden immer vom Besser, niemand redet darueber was da- durch gleichzeitig schlechter wird. Das liegt daran, dass kein systemisches Denken vorhanden ist. Nun noch zu den Monokulturen, die ebenfalls auf einer Best-Case- Hoffnung basieren. Sie versprechen hoechste Effizienz und Ernteertraege ... im Best-Case-Szenario. Andere Szenarien betra- chtet man gar nicht. Das ist ein Gluecksspiel bei dem man alles auf eine Karte setzt und sich nur fuer den Erfolgsfall interes- siert. Natuerlich ist dann der moegliche Gewinn am groessten. Ebenso ist aber auch die Verlustwahrscheinlichkeit am groessten, zudem die Komplettverlustwahrscheinlichkeit. Bei einem vielfael- tigeren Ansatz verliert man immer auch ein bisschen, gewinnt aber immer auch etwas um das auszugleichen. Die Verluste waeren weder so umfassend noch so schlimm, wenn man nicht alles auf eine Karte gesetzt haette. Dafuer sind die Gewinne natuerlich auch nicht so gross wenn es glueckt. (Aber wer wuerde schon mit seiner eigenen Lebensgrundlage wie etwas unabhaengigem, distanziertem, beliebi- gem im Casino spielen?!) Waehrend im Casino Ursache-Wirkungs-Zusammenhaenge direkt und zeitnah sind, ist es bei Monokulturen mitunter schwer nachzu- vollziehen, dass manche Auswirkungen die Folge eigener Entscheidungen sind. Schlimm an Monokulturen (und sonstiger intensiver Landwirtschaft) ist, dass anfangs alles wunderbar klappt und erfolgreich ist. Die Probleme treten erst spaeter auf. Hierin unterscheiden sie sich nicht von Plastik und der Atomkraft: In allen drei Faellen werden die Sofortgewinne mit in die Zukunft verlagerten und damit erst- mal unsichtbaren Kosten gemacht. Ist es naiv und toericht sich von einem Kredithai oder der Mafia Geld zu leihen? So ist es ebenso toericht und gleichermassen gefaehrlich Monokulturen, Problemplastik und Atomkraft ein- zusetzen. Nur eine naive, kurzsichtige, sofortgewinnversessene, Best-Case-betrachtende Person wird sich darauf einlassen. Die Best-Case-Betrachtungsweise basiert darauf mit einem Tunnel- blick durch die Welt zu laufen, Sachverhalte losgeloest zu betra- chten, die Existenz von Systemen und Fernwirkungen zu leugnen, die Zukunft zu ignorieren und das eigene Wissen als vollstaendig zu erachten. Die Worst-Case-Betrachtungsweise erfordert dagegen in grundlegender Weise eine vielperspektivische und moeglichst um- fassende Betrachtung. Naive, kurzsichtige, einperspektivische und hoffnungsbasierte Herangehensweisen sind bei ihr nicht moeglich. Sie ist die hilfreichere Weltsicht. [0] Albert Einstein http://marmaro.de/apov/ markus schnalke