2020-03-24 gesellschaftsanalyse Verstaendnis der Dinge Gewaltfreie Kommunikation Vor ein paar Jahren hat mir Carsten etwas zur Gewaltfreien Kom- munikation erzaehlt. Dies hat sowohl eigene Gedanken von mir bes- taetigt, als auch neue angestossen. Ich wuerde sagen, dass diese Inspiration zur rechten Zeit und genau in der passenden Weise vorhanden war. Ich uebernehme keine Lehren einfach so. Ich denke auch, dass das wenig hilfreich ist. Paedu meinte letztens, dass bei gescheiter- ten Scrum-Projekten oft die Schuld der ungenauen Einhaltung der Scrum-Regeln gegeben werde. Ich denke, dass das genau falsch rum ist. Das ist wie der Uncle-Bob-Ansatz, der genauso falsch rum ist. ``So foolish as to book on the wrong side of the ledger'', wie Dijkstra sagen wuerde. In Bereichen in denen ein gutes Verstaendnis der Sache bei allen Beteiligten die Erfolgsgrundlage darstellt, kann das blinde Be- folgen von Regelwerken (oder Personen) keine Loesung sein. Viel mehr ist es der Anfang der Probleme. Gewaltfreie Kommunikation und Software-Entwicklungsprozesse haben eine Menge miteinander zu tun. Es geht um das Miteinander von Menschen, die sowohl individuelle Beduerfnisse als auch gemein- same Ziele haben (inmitten von Welt-Widrigkeiten). Gaebe es keine unterschiedlichen Beduerfnisse, dann gaebe es auch keine Kon- flikte. Gaebe es keine Welt-Widrigkeiten (sowohl externe als auch inherente), dann gaebe es auch keine Probleme. Gaebe es keine gemeinsamen Ziele, dann wuerde jeder alleine seines Weges ziehen. Am meisten ueber Software-Entwicklungsmodelle gelernt habe ich durch ``The Mythical Man-Month'' von Brooks und einem Buch ueber Extreme Programming von Kent Beck (ich weiss leider nicht mehr welches es war). Weitere Buecher und meine Praxiserfahrungen ha- ben ergaenzt, aber -- und darum geht es mir -- es waren keine Scrum-Regelwerke, die mir geholfen haben. Kochen lernt man auch nicht wenn man Rezepte ausfuehrt. Ebensowenig lernt man Mathema- tik wenn man das Einmaleins auswendig lernt. In allen Faellen muss man das dahinter liegende System begreifen und erforschen. Es bedarf eines Verstaendnisses der Sache, keine stupide Aus- fuehrungsperfektion. Ueberhaupt ist Perfektion mehr ein Problem als eine Hilfe. Im Discgolf wuerde man sagen, dass es wichtiger ist, Bogeys zu ver- meiden als perfekte Drives zu werfen. Es geht naemlich immer etwas schief. Damit umzugehen, immer wieder zurueck auf den Fair- way zu kommen (scrambling), das ist das Wichtigste. Lieber solide bogey-free als in wildem Rollercoaster-Auf-und-ab. Entwicklungsprozesse, ebenso wie die Kommunikation und das Mi- teinander als Paar oder in Gruppen, erfordern ein konstantes Nachjustieren. Korrekturen sind staendig noetig -- sie sind der Normalfall --, und keine Situation ist gleich wie eine andere. Viele suchen dafuer Antworten bei aussenstehenden Experten: Scrum-Mastern, Moderatoren, Beziehungspsychologen, Sporttrainern, etc. Diese haben einen grossen Wert durch ihre Aussenperspektive. Das ist was sie tatsaechlich Wichtiges bieten koennen, aber sie loesen nicht die Probleme ... jedenfalls nicht in nachhaltiger Weise. Probleme muessen immer an ihrer Quelle geloest werden, also bei und zwischen den Beteiligten. Ich denke, dass jede Prob- lemloesung, die das Team, das Paar, die Gruppe fuer sich selber schafft, besser ist als von aussen vorgegebene Loesungen. Im einen Fall wird naemlich das Team staerker, im anderen Fall wird es schwaecher und zunehmend abhaengig vom externen Problemloeser. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass externe Beobachter durchaus oft Probleme als erste erkennen und frische Loesungsin- spirationen liefern koennen. Die Beteiligten koennen dabei ler- nen, diese Betrachtungswinkel einzunehmen und ihr Repertoire an Loesungsansaetzen anreichern. Das alles erfordert aber eben ein Verstaendnis der Sache, die Bereitschaft Selbstanalyse und Loesungsfindung zu betreiben ... bei allen Beteiligten. Folglich muessen alle Beteiligte verstehen was sie da tun, nicht nur inhaltlich, sondern ebenso beim Entwicklungsprozess, beim Miteinander, bei der Kommunikation. Und darum hilft nicht das blinde Befolgen von Anleitungen weiter, sondern nur das Verstaendnis der Sache selber. Am meisten Verstaendnis bringt, meiner Meinung nach, die innere Struktur der Dinge. Es gilt, die Sache zu zerlegen, die gekoppel- ten und die unabhaengigen, die zentralen und die peripheren Kom- ponenten zu identifizieren. Das ist eine Staerke von Informatik- ern ... und Juristen, mit ihrer schoenen Leitfrage: Wer will was von wem? Diese Leitfrage sollte man sich auch abseits der Jur- isterei oft stellen. Zurueck zur Gewaltfreien Kommunikation. Wenngleich sie hilft weniger aggressiv zu kommunizieren, so finde ich in ihr Gedanken, die weit groesser sind als ``nur'' die Kommunikation betreffend. So gesehen ist der Name einschraenkend. Eigentlich geht es bei ihr um ein Wahrnehmungsmodell des menschlichen Miteinanders! Im Kern der Gewaltfreien Kommunikation stehen fuer mich die indi- viduellen Beduerfnisse. Es ist gar nicht einfach herauszufinden, was genau die tatsaechlichen Beduerfnisse sind, und was nur Schi- chten darueber sind. Das zu ergruenden ist eine Kernaufgabe. Entscheidend ist: Beduerfnisse sind nicht gut oder schlecht, son- dern sie sind vorhanden. Handlungsweisen sind aber unabhaengig von den Beduerfnissen. Hier liegt die Arbeitsmasse; hier werden die Konflikte geloest. Es kollidieren naemlich weniger die Beduerfnisse, als die daraus entstehenden Handlungsweisen. Diese sind jedoch nicht fest- geschrieben, sie haben sich bloss eingeschliffen. Es gilt also kollisionsfreie Handlungsweisen zu finden, die die individuellen Beduerfnisse ebenso gut (oder besser!) befriedigen. Hier klingt ganz viel Harvard-Ansatz mit. Das Schoene daran: Es ist eine gemeinsame Loesungssuche, statt einem Gegeneinander. Dies erinnert mich an ein Editorial von Stephanie Silber (Schrot und Korn, 03/2020), das ich kuerzlich gelesen habe. In ihm wird dargestellt, dass Bauern-Demos und Oeko-Demos scheinbar Gegen- demos sind und leider oft genug gegeneinander gefuehrt werden. Dabei kollidieren die Beduerfnisse der Beteiligten kaum, nur ihre Handlungsweisen kollidieren. Man koennte ebenso gut gemeinsam demonstrieren (und damit wirklich etwas erreichen ... fuer beide Seiten). Das alles ist eben letztlich ein Wahrnehmungsmodell des Mi- teinanders. Wir verstehen die Welt anhand unserer Gedankenmo- delle. Je nachdem wie diese aussehen, werden wir manches wahrneh- men und anderes nicht. Je nach Modell sind die einen Aspekte wichtiger oder die anderen. Das ist aber eine willkuerliche Wahrnehmungsfrage und nichts der betrachteten Sache Inherentes! Der Kommunikationsaspekt der Gewaltfreien Kommunikation ist aus meiner Sicht ``nur'' die Folge des von ihr beschriebenen Wahrnehmungsmodells -- die sichtbare Aussenhuelle der inneren Gestalt. Ich will den Kommunikationsteil nicht kleinreden, kann er doch vieles im Miteinander verbessern. Aber bloss ein paar passende Formulierungen zu verwenden ist nicht besser als das Einmaleins auswendig zu lernen: Es ist in vielen Faellen hilfreich, aber re- chnen kann man dadurch noch nicht. Vielleicht erklaert das nochmal besser, warum mir das Ver- staendnis der Dinge so wichtig ist. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke