2018-07-23 gesellschaftsanalyse Informatikerwahn Es geht ihnen einfach zu gut Das Folgende ist ein Jammern auf hohem Niveau. Es geht ihnen einfach zu gut, als dass sie sich fuer ungluecklich halten koennten. [0] Mir geht es noch viel besser als ihnen -- wie kann ich mich da fuer ungluecklich halten?! Die Parallelen jedoch, die sich fuer mich dort ueberraschend gezeigt haben -- an einer Stelle, wo ich sie ueberhaupt nicht erwartet hatte -- sind erschreckend ... und erleichternd zu- gleich. Ich fuehle mich etwas mehr verstanden: anderen geht es auch so; ich bin nicht alleine! Mein Problem ist nicht das Gleiche wie ihres. Meines ist auch weniger schwerwiegend. Was ich aber sehe, sind aehnliche Muster ... abstrakte Muster, die unter verschiedenen Oberflaechen ver- steckt liegen. Betty Friedan beginnt den Haupttext ihres Buches mit einem Prob- lem ohne Namen: ``Viele Jahre lag das Problem den amerikanischen Frauen unausgesprochen im Sinn.'' Man koennte heutzutage in Deutschland ebenso schreiben: ``Viele Jahre lag das Problem den Informatikern im oeffentlichen Dienst unausgesprochen im Sinn.'' Mein ... unser Problem hat auch noch keinen Namen, es wird auch noch nicht gesehen. Ueber seine Existenz wird nicht nachgedacht, denn was fuer ein Problem koennte es denn sein? Wir haben doch alles was moeglich ist! Klar, Geld koenne der oeffentliche Dienst nicht genug bieten -- das ist das Einzige, was den Leuten einfaellt, dabei schiessen sie damit voll am Problem vorbei. Mehr Geld wuerde am eigentlichen Problem gar nichts aendern, es ver- mutlich nur noch verschlimmern. Und doch muss irgendwann erkannt werden, dass ein Problem vorliegt, denn es erzeugt Auswirkungen. Diese entsetzliche Muedigkeit fuehrte in den fuenfziger Jahren so viele Frauen zum Arzt, dass einer beschloss, der Sache nachzugehen. Er stellte ueberraschenderweise fest, dass seine an ``Hausfrauehnmuedigkeit'' leidenden Patientinnen mit zehn Stunden am Tag laenger schliefen, als ein Erwachsener an Schlaf braucht, und dass die tatsaechliche Energie, die sie fuer die Hausarbeit aufwendeten, ihre Leistungsfaehigkeit nicht belastete. Das wahre Problem musste etwas anderes sein, meinte er -- vielleicht Langeweile. [1] Das kommt mir so sehr bekannt vor! So viele Tage, an denen ich diese Worte sagen koennte: ``Meine Tage sind ausgefuellt, aber langweilig. Ich tue nichts als rummurksen.'' [2] Als ich begonnen habe, Friedans Analyse der Situation der ameri- kanischen Frauen zwischen 1940 und 1960 zu lesen, habe ich, auf uebertragene Weise, immer wieder mein eigenes Spiegelbild gesehen. Hier ein Versuch, dieses zweite Bild, mit mir selber darinnen, darzustellen. Zuerst aber die Originalvariante: Zu Beginn dieser Lobgesaenge wird gewoehnlich von einer Frau berichtet, die sich ueber einen Minderwertig- keitskomplex beklagt, den sie bekommt, wenn sie sich in irgendeinem Fragebogen als ``Hausfrau'' bezeichnen muss. Die Verfasserin des Lobgesangs, die natuerlich niemals ``nur Hausfrau'' ist (in diesem Fall war es Dorothy Thompson, Journalistin, Auslandskorresponden- tin, beruehmte Kollumnistin, in Ladies' Home Journal, Maerz 1949), bricht dann in ein olympisches Gelaechter aus. ``Der Haken bei Ihnen ist'', meint sie tadelnd, ``dass Sie, ohne es zu wissen, ja ein Dutzend Berufe gleichzeitig haben. Statt Hausfrau koennten Sie auch schreiben: Buchhalterin, Koechin, Krankenschwester, Chauffeur, Schneiderin, Innendekorateur, Lebensmit- telhaendler, Lehrerin, Privatsekretaerin -- oder schreiben Sie einfach Menschenfreundin ... Ihr ganzes Leben haben Sie Ihre Energie, Ihre Begabung, Ihre Dien- stleistungen unentgeltlich hergegeben.'' Und doch bek- lagt sich die Hausfrau: ``Jetzt bin ich fast fuenfzig und habe nichts von dem getan, was ich mir in der Jugend vorgenommen hatte -- Musik hatte ich studieren wollen, aber mein Collegebesuch ist ganz umsonst gewesen.'' ``Haha'', lacht Dorothy Thompson, ``haben es Ihre Kinder denn nicht von Ihnen, wenn sie musikalisch sind? Und haben Sie nicht in all den muehseligen Jahren, als Ihr Mann seine grosse Arbeit schrieb, mit wenig Wirtschaftsgeld ein gastfreies Haus gefuehrt, Ihre und Ihrer Kinder Kleidung genaeht, das Wohnzimmer selbst tapeziert und jede guenstige Einkaufsgelegenheit listig erspaeht? Und haben Sie nicht nebenher noch Ihres Mannes Manuskripte getippt und Korrektur gelesen, Wohltaetigkeitsbasare organisiert, um das Loch in der Kirchenkasse zu stopfen, mit den Kindern vierhaendig Klavier gespielt, damit ihnen das Ueben mehr Spass machte, und haben Sie nicht ihre Schularbeiten ue- berwacht?'' ``Aber alles war stellvertretend -- fuer andere'', seufzt die Hausfrau. ``Ebenso stellvertretend wie Napoleon Bonaparte oder eine Koenigin'', hoehnt Dorothy Thompson. ``Ich verstehe Ihre Selbstbem- itleidung einfach nicht. Sie sind doch eine der erfol- greichsten Frauen, die ich kenne.'' [3] Und nun das Gleiche mit neu besetzten Rollen: Zu Beginn dieser Lobgesaenge steht gewoehnlich ein In- formatiker, der sich ueber seine Unerfuelltheit bek- lagt, die ihm bewusst wird, wenn er sich mit seiner Ar- beitssituation im oeffentlichen Dienst befasst. Der Verfasser des Lobgesangs, der natuerlich niemals ein Informatiker ist, bricht dann in ein olympisches Gelaechter aus. ``Der Haken bei Ihnen ist'', meint er tadelnd, ``dass Sie, ohne es zu wissen, ja ein Dutzend Herausforderungen gleichzeitig bewaeltigen. Statt als einfacher Informatiker koennten Sie sich auch sehen als: Chefprogrammierer, Problemloeser, Feuerwehrmann, Kommunikationsprofi, Uebersetzer, Vermittler, Softwaredesigner, Entwicklungshelfer, Teamkoordinator, Innovator -- oder schreiben Sie einfach Menschenfreund ... Ihr ganzes Leben haben Sie Ihre Energie, Ihre Bega- bung, Ihre Dienstleistungen dem Guten gewidmet.'' Und doch beklagt sich der Informatiker: ``Jetzt bin ich fast vierzig und habe nichts von dem getan, was ich mir in der Jugend vorgenommen hatte -- die Softwarewelt hatte ich revolutionieren wollen, aber mein Informa- tikstudium, meine Befaehigungen sind fast umsonst gewesen.'' ``Haha'', lacht der Beamte, ``hat es Ihr Team denn nicht von Ihnen, wenn vieles jetzt viel besser laeuft? Und haben Sie nicht in all den muehseligen Jahren des Wandels, entgegen aller Widrigkeiten die Strukturen er- neuert, die Arbeitsprozesse verbessert und jede guen- stige Automatisierungsmoeglichkeit listig erspaeht? Und haben Sie nicht nebenher noch Ihrer Kollegen Manuskripte geprueft und Korrektur gelesen; die wachsende Community aufgebaut und gepraegt, um eine stabile Ausgangsbasis fuer das Projekt zu schaffen; wo es noetig war die Kollegen gelobt und aufgemuntert, damit die Stimmung gut bleibt und das Team zusam- menhaelt? Und haben Sie nicht auch immer bereits die uebernaechsten Schritte im Blick gehabt?'' ``Aber alles war stellvertretend -- fuer andere'', seufzt der Infor- matiker. ``Ebenso stellvertretend wie Napoleon Bonaparte oder ein Koenig'', hoehnt der Beamte. ``Ich verstehe Ihre Selbstbemitleidung einfach nicht. Sie sind doch einer der faehigsten und erfolgreichsten In- formatiker, den ich kenne.'' So ist es ... ein erfolgreicher Feldherr, ein Koenig, der jedoch nur in fernen Laendern unter fremden Farben gekaempft hat. Seinen eigenen Kampf hat er nicht gefuehrt, seine eigenen Ziele nicht verfolgt. Er haette ein Grosser unter *seinesgleichen* werden koennen, die Welt in seiner Heimat, in seiner Sprache, voran bringen koennen, aber er hat es nur in ihrer Welt getan. Als Hausfrau und Mutter wurde sie als vollgueltige und gleichberechtigte Partnerin des Mannes in seiner Welt anerkannt. [4] Keine Frage: der oeffentliche Dienst erkennt mich vollgueltig und gleichberechtigt an, wenn ich mich in seine Welt einfuege. Dass seine Welt aber nicht meine ist, dass seine Beduerfnisse nicht zwangslaeufig auch meine sind, dass ich etwas brauchen koennte, was er so nicht kennt, der Gedanke ist ihm noch nicht gekommen. Dabei gibt es diese Informatikerwelt dort draussen, sie ist da, sie ist erfolgreich, auch wenn der oeffentliche Dienst sie scheinbar noch nie besucht hat. Das ist ein grosser Unterschied und Vorteil gegenueber den Frauen, die diese etablierte, bedeu- tende Frauenwelt als Gegenpol so nicht haben. So verbleibe ich weiterhin ohne Berechtigung zur Klage: Es geht ihnen einfach zu gut, als dass sie sich fuer ungluecklich halten koennten. [5] Und doch: ``Meine Tage sind ausgefuellt, aber langweilig. Ich tue nichts als rummurksen.'' [6] [0] Betty Friedan: Der Weiblichkeitswahn, S. 18 [1] S. 25 [2] S. 22 [3] S. 31 f. [4] S. 15 [5] S. 18 [6] S. 22 http://marmaro.de/apov/ markus schnalke