2018-04-24 gesellschaftsanalyse Erkennen! Wir stecken mitten drin Seit Tagen hatte Laurie versucht, die Wichtigkeit der Welle fuer sich zu leugnen, aber es klappte einfach nicht. Die Welle war Furcht erregend. Sie war sicher grossartig, solange man ein Mitglied war, das keine Fragen stellte. War man das aber nicht ... [0] Die Welle ist ein lehrreicher Fall, denn sie zeigt, dass nicht Nazideutschland drueber stehen muss, damit die gleichen schaedli- chen Tendenzen auftreten koennen. Ueberall auf der Welt, seit vielen Jahrzehnten, fragen sich die Menschen, wie das damals in Deutschland hatte passieren koennen. Die Welle gibt die modellhafte Antwort. Bei ihr ist ein Schulexperiment zu weit gegangen. Viel schlimmer aber: wir alle stecken derzeit in einer ebensolchen Situation, jedoch ohne Lehrer, der uns etwas vermit- teln will. Ich koennte nun von Trump, Erdogan und Co. anfangen. Das wuerden wir Deutschen von ausserhalb dieser Systeme schon erfassen. Viel naeher und fuer uns unsichtbarer liegt aber eine andere Bedrohung: Google, Facebook, Whatsapp, Github & Co.! Man mache sich die Muehe und analysiere die Parallelen zwischen diesen Systemen und der Welle. Sie sind erschreckend gross. Die Wichtigkeit (oder besser: Bedeutung) dieser Systeme ist nicht zu leugnen. Wenn man Mitglied ist, sind sie grossartig, aber wenn man es nicht ist, sind sie furchterregend, da sie einen aus dem Sozialleben draengen. ``Ploetzlich fuehle ich mich allein'', sagte David, als sie durch den Park gingen. ``Es ist so, als gehoerten alle meine Freunde zu einer verrueckten Bewegung, und ich bin ein Ausgestossener, bloss weil ich mich weigere, genau wie sie zu sein.'' [1] Ich kann die Tendenzen meiner Situation kaum besser beschreiben. Ich nutze nicht nur eines dieser Systeme nicht, sondern gar keines. Vor ein paar Jahren war das noch kein Problem, heute aber laufen alle Gespraeche im Sportverein via Whatsapp an mir vorbei. Wenn ich Glueck habe, schreibt mir jemand die Ergebnisse per Email. Wichtige Abstimmungen laufen mir zuliebe immer noch per Email. Wird das in fuenf Jahren immer noch so sein? Wuerde man sich diese Muehe auch machen, wenn ich keine wichtige Person, sondern ein wenig beliebter Aussenseiter waere? Es gibt ein Bestreben zur Mitgliederwerbung bei diesen Systemen. Die Vorteile in den Systemen zu sein sind gross, die Nachteile aussen zu stehen ebenso. Auch wenn keine physische Gewalt angewandt wird, so werden Menschen doch psychologisch und sozial verletzt. Ein Kommunikationsausschluss aus der sozialen Gruppe, wie das bei Whatsapp droht, ist meist wohl der schlimmere Fall. Mich belastet aber auch, dass die Welt der Freien Software beschnitten wird, wenn ich zum Absetzen eines Bugreports einen Github-Account brauche. Da ich den nicht erstellen will, kann ich fuer manche (d.h. viele) Projekte keine Bugreports absetzen. Auch keine Bugreports kommentieren, keine Patches einreichen, etc. Dieser Verlust wird, bei allen Vorteilen von Github, nicht gesehen ... genau wie bei der Welle. Sie glauben, dass durch die Welle alle gleich werden, aber sie begreifen nicht, dass dadurch jeder das Recht verliert, unabhaengig zu sein. [2] Schon seit einiger Zeit argumentieren die anderen nicht mehr fuer ihre Systeme, sondern man ist in die Pflicht gekommen, zu ar- gumentieren (sich zu verteidigen), warum man nicht teilnehmen will. Dabei wird einem unterschwellig vermittelt, dass man der Gruppe schaden wuerde, den Erfolg ausbremsen wuerde, ein Rebell waere, wenn man nicht mitmacht. Das erinnert mich auch an die Welle. Ich frage mich, was mich eigentlich nicht an die Welle erinnert! Wie kann man das *nicht* furchterregend finden? Indem man nicht hinschaut, natuerlich. ``Aber warum erkennt das dann sonst niemand?'' fragte er. ``Das weiss ich nicht. Ich glaube, sie sind alle wie in Trance. Sie hoeren einfach nicht mehr zu.'' [3] Die Faehigkeit und der Wille, die Situation, in der man selber steckt, bestmoeglich zu analysieren, ist zu wenig ausgepraegt. Wir stellen uns lieber blind als der unangenehmen Wahrheit ins Auge zu sehen. Das liegt aber auch daran, dass Inkonsistenzen einer Person als unduldbare Schwaechen angesehen werden, die es zu vertuschen gilt. Mir ist es viel lieber, jemand nutzt so ein ein System mit offener Kritik, denn dieser verfuehrt zumindest nicht Aussenstehende zum System. Noetig ist eine Kultur der Sachlichkeit, der Analyse, des In- fragestellens, der Selbstkritik, des offenen Umgangs mit eigenen Fehlern. Verhalten (wissenschaftlich, politisch, wirtschaftlich), das Probleme unter den Teppich kehrt, muss geaechtet werden! Wer Fehler macht, diese aber analysiert und sein Bestes tut, sie an- deren zu ersparen, sollte ausgezeichnet werden. Wer Probleme zu- gunsten der Allgemeinheit (und unter eigenen Nachteilen) auf- deckt, muss geschuetzt und sollte gewuerdigt werden. Wir brauchen einen Kulturwechsel. Je mehr ich mich damit befasse, desto staerker festigt sich meine Meinung, dass Heterogenitaet, Offenheit und Vielfalt nicht das Problem sondern die Loesung sind. Der Mehraufwand, der dadurch erforderlich ist, der ist ein Preis der Freiheit. Dieser Preis ist gering. Wenn man die Probleme fehlender Freiheit bedenkt, dann ist er sogar verschwindend ger- ing. [0] Morton Rhue: Die Welle, S. 115 [1] Morton Rhue: Die Welle, S. 167 [2] Morton Rhue: Die Welle, S. 167 [3] Morton Rhue: Die Welle, S. 167 http://marmaro.de/apov/ markus schnalke