2017-04-24 gesellschaftsanalyse Email Im Notfallmodus Ich fuehle mich immer weniger wohl in dieser Computerwelt, und zwar aus aehnlichen Gruenden wie sich aeltere Menschen in der Welt draussen zunehmend weniger wohl fuehlen. Ich verstehe sie zwar noch, aber sie passt nicht mehr zu mir. Ich ertrage den Ver- fall, den ich sehe, nicht, und ich will an ihm nicht teilhaben. Der ``Nachteil'' der Alten gegenueber den Jungen ist, dass sie die alte Welt auch kennen und ihr Gutes schaetzen gelernt haben. Viele Jahre war meine Computerwelt in Ordnung (oder ich war jung genug). In den letzten Jahren hat sich das geaendert. Email stirbt! Ich kann es nicht fassen, aber das ist die Reali- taet: Email beginnt zu sterben. Es wird nicht morgen schon tot sein, aber der Krankheitsverlauf ist deutlich. Die Kommunikation unter Menschen laeuft zunehmend per Whatsapp und Co. statt per Email ab. Eine Umkehrung dieser Tendenz ist nicht abzusehen. Aber auch bei Softwareprojekten sind Mailinglisten keine Selbstver- staendlichkeit mehr. Viele Projekte laufen komplett ueber Github. Ohne einen Account kann man noch nicht mal Bugs reporten oder welche kommentieren. Das sind die gesellschaftlichen Komponenten der Entwicklung. Technisch gesehen wuchert die Plage Spam wie Krebs. Bekaempft wird sie indem sich die Grossen zusammentun und ihre Laendereien nach aussen hin abschotten. Der grosse Wert der Offenheit von Email (die natuerlich auch eine Offenheit fuer Spam bedeutet) wird gegen eine spamunterdrueckende Diktatur eingetauscht. Dabei passieren natuerlich auch ein paar Kollateralschaeden, unglueck- lich faelschlich Verdaechtigte, usw. Man kennt das ja. Aber auch Mailinglisten schreiben inzwischen vorsorglich Absender-Header um, um vertrauenswuerdiger klassifiziert zu werden. (Das ist nur kurzsichtig sinnvoll.) Und als Betreiber eines eigenen Mail- servers (was eine grossartige Moeglichkeit von Email ist) muss man immer haeufiger seine IP-Adresse bei grossen Providern entblocken lassen. Wie lange hat man noch Lust, diese zusaet- zliche Energie aufzuwenden? All diese Tendenzen entsprechen den momentanen Tendenzen ueberall in der Gesellschaft: Man bekaempft Probleme und Unsicherheit durch Zentralisierung mit Kontrolle durch wenige grosse ``Ver- trauenswuerdige''. Diese Vertrauenswuerdigkeit ist aber ein auf- gezwungener Leap-of-Faith. Auf Randgruppen und Sonderfaelle wird nicht geachtet. Das gesamtgesellschaftliche Verhalten entspricht dabei dem eines Koerpers bei Unterkuehlung: Er zieht alle Energie zur Koerper- mitte hin zurueck und vernachlaessigt Aussenbereiche. Es ist wie befallene Gliedmassen abzubinden, mit dem Risiko, dass sie absterben, aber der Hauptkoerper ueberlebt. Man konzentriert sich auf die Mitte und opfert die Vielfalt am Rand. Das ist ein Verhalten, auf das sich ein Organismus nur in groesster Not ein- laesst. Diese Not kann ich aber weder bei Email noch sonst in der Welt erkennen. Meiner Meinung nach gibt es groessere gesellschaftliche Probleme als die durch FUD geschuerten, z.B. eben diesen Notfallmodus, in dem sich die Gesellschaft derzeit viel zu oft befindet. Unter Stress in einer Ausnahmesituation agieren Menschen nicht mehr rational sondern irrational und emo- tional. Sie sind dabei besonders einfach beeinflussbar, insbeson- dere durch das was sie in diesen Gefahrenmodus versetzt hat. Wie ich schonmal gesagt habe: Email wegen des Spams aufzugeben ist wie die Demokratie wegen der Diskussionen aufzugeben. Natuer- lich waere ein wohlwollender Diktator der beste Fall, aber die Geschichte zeigt, dass das ein theoretischer Wunschtraum bleibt. Die Gefahr ist viel zu gross, als dass man sich darauf einlassen koennte. Das alles ist insbesondere eine Frage von Randgruppen und Viel- falt. Natuerlich, wenn man nicht zu denen gehoert, dann kann es schwer sein, all die ``durch sie'' vorhandenen ``Probleme'' fuer noetig zu erachten. Wenn man aber zu ihnen gehoert, dann wird man zwar vermutlich ein paar Nachteile hinnehmen muessen, aber man will doch ungerne ganz ausgeschlossen werden. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke