2015-06-16 gesellschaftsanalyse Kantinenfressen Fehlende Wertschaetzung des Essens Ich bin ein Langsamesser. Das ist eine gute Eigenschaft, wie ich finde. Leider bin ich damit weniger gesellschaftskompatibel. Waehrend des Studiums bin ich nie in die Mensa gegangen. Die Vorstellung, dort zu essen, war fuer mich abwegig. All der Laerm, diese Enge, der resultiernde Stress und die resulierende Essenshetze ... wer wuerde sich das freiwillig antun wollen? Darueber hinaus bin ich ein Freund belegter Brote (Stullen, wie mein Opa sagen wuerde) und habe mir aus warmen Mahlzeiten noch nie viel gemacht. So brachte ich mir mein Vesper selbst mit, setzte mich damit und mit etwas zum Lesen in ein ruhiges Eck und genoss meine Mittagspause. Alles war passend. Jetzt habe ich Kollegen, die taeglich in die Kantine gehen. Da ich die Kollegen schaetze, will ich aus sozialen Gruenden ab und zu mitgehen. Jedesmal ist es aber erneut ein Opfer. Ich kann mich mit dieser Essenskultur einfach nicht anfreunden (und will es auch nicht). Es laeuft so ab: Man trifft sich kurz vor zwoelf, spaziert zur Kantine, holt sein Essen und setzt sich. Dann schlingen alle ihre Portion hinunter. Es folgen ein paar Minuten des Gespraechs, bis der Letzte auch fertig ist, dann stehen alle auf -- es ist noch vor halb. Mit einem kurzen Spaziergang geht's wieder zurueck. Der ganze Ablauf traegt das Muster ``Wie bringe ich das notwen- dige Uebel Mittagessen schnellst moeglich hinter mich?'' Wo ist da die Wertschaetzung? Sie hat keinen Platz. Fuer sie ist keine Zeit. Kuerzlich gab es Nudeln mit einer guten Sauce, dazu eine Suppe und einen Nachtisch. Ich fand, das war ein Festessen. Alles war gut gelungen und des Geniessens wert. Dieser Genuss hatte aber keinen Platz, keine Zeit. Ich wollte mir jeden Bissen im Mund zergehen lassen. ich wollte mich an jedem Bissen erfreuen. Ich wollte mich des Festmahls erfreuen. Aber ich machte es den An- deren nur nach: Ich schaufelte Gabel fuer Gabel in meinem Mund, kaute und wuergte das Zeug hinunter, schluerfte die Suppe im Eil- tempo und war froh, die Anderen nicht warten lassen zu muessen. Es war schrecklich! Ich habe mich nicht getraut, denen zu sagen, dass ich dieses Mal doppelt so lange brauchen wuerde, da ich diese Festspeise in meinem eigenen Essenstempo geniessen wollen wuerde. Mich hat diese Genussvernichtung hinterher furchtbar auf- geregt. Was fuer eine Verschwendung! ... und alles nur wegen des sozialen Drucks. Was fuer eine Schande! Sind also die Einzelgaenger gar nicht die Banausen, sondern die Geniesser, weil die soziale Gruppe die Genussmoeglichkeit zer- stoert? Ist das Einzelgaengertum also eine erzwungene Flucht aus Wertschaetzung? Wenn das Essen zu einem unangenehmen Vorgang wird, dann laeuft etwas falsch. Wenn das Essen keine Erholung bietet, sondern eine Hetzerei ist, dann laeuft etwas falsch. Wenn das eigene Essen- sempfinden in ein Kantinenschema gepresst werden muss, wenn man sich ihm unterzuordnen hat, dann laeuft etwas falsch. Wenn etwas falsch laeuft, dann muss man Konsequenzen ziehen. In einem unbeeinflussten Umfeld esse ich halb so schnell, oder noch langsamer, als in der Kantine. Ich kann schon auch nach zwanzig Minuten mit dem Essen fertig sein, dann darf die Portion aber nur halb so gross sein. Damit haette ich kein Problem, aber in der Kantine gibt es nur Einheitsportionen mit zwei Beilagen. Man steht also vor der Wahl, auf Suppe, Salat, Nachtisch zu verzichten und alternativ oder zusaetzlich einen Teil des Hauptgericht in den Muell wandern zu lassen. Ersteres mache ich ungern, zweitere ist unethisch, und drittens waere es ein Drei-Euro-Essen fuer fuenf Euro. Nichts da- von gefaellt mir, und so frage ich mich, warum ich ueberhaupt mit in die Kantine gehe. Es sind in erster Linie soziale Gruende. Sind die es wert? Statt meine Mittagspause immer alleine zu verbringen (mit Essensgenuss und Ruhe!) koennte ich auch offensiver in die Kan- tinensituation gehen. Ich koennte langsam essen und darauf bestehen, dass die Anderen ohne mich aufstehen, wenngleich dies schwerlich durchsetzbar waere. Es wuerde aber die soziale Belas- tung von mir auf die Schnellesser uebertragen. Ob ich dazu jedoch faehig waere, ohne selbst emotional belastet zu sein, weiss ich nicht. Oder ich koennte einen Behaelter mitnehmen und einen Teil der Mahlzeit einpacken und fuer abends mitnehmen. Das waere ebenfalls gewagt, aber auch ein klares Zeichen. Viel wahrscheinlicher werde ich mich aber zurueckziehen. Dieser Weg bietet mir neben den Essensaspekten naemlich auch die Ruhe fuer ein paar Gedanken. Zusammenfassend bin ich erschrocken ueber den sozialen Druck in der Kantinensituation und darueber wie sehr dort das eigene Essensgefuehl den zugeteilten, standardisierten Portionen und dem vorgesehenen Zeitslot untergeordnet wird. http://marmaro.de/apov/ markus schnalke